Die Liebe atmen lassen
In-sich-Spürens; auch sehr viel seelischen Sinn der gefühlten Beziehungen zu Anderen, denn gemeinsame Rituale heben die sinnlos erscheinende Vereinzelung auf, wenigstens für die Zeit des Rituals, an das mehrere undsogar viele Menschen »andocken« können, ohne den Ablauf jedes Mal neu festlegen zu müssen. Und für geistigen Sinn sorgen Deutungen, die den rituellen Handlungen zugrunde gelegt werden: Sie verleihen zum Beispiel der Geschichte einer Beziehung die Bedeutung, die durch eine regelmäßige rituelle Feier bekräftigt wird; wehe aber, wenn der Jahrestag vergessen wird! Und schließlich kann auch ein gefühlter und gedachter transzendenter Sinn mithilfe von Ritualen gepflegt werden, deren Ursprung einst der ritus war, die Feier der Transzendenz, des Unendlichen im Endlichen, des Möglichen im Wirklichen, zu regelmäßig wiederkehrenden Zeiten. Schon die Existenz des Rituals selbst verkörpert Transzendenz, wenn es aus alter Zeit stammt und somit die Zeit des Einzelnen weit überschreitet. Das Kommen und Gehen des Rituals erinnert zudem an das zyklische Werden und Vergehen des Lebens selbst und nimmt seiner Endlichkeit die Absolutheit, die sie in moderner Zeit gewonnen hat.
Und dennoch ist grundsätzlich auch Vorsicht geboten gegenüber beharrlichen Formen des Lebens, wie Gewohnheiten und Rituale sie verkörpern. Nicht grundlos unterlagen sie in moderner Zeit dem Verdacht, Menschen zu normieren und in ihrer freien Entfaltung einzuschränken. Die scheinbare Zwanglosigkeit, mit der sie einem Verhalten Form geben, sollte über ihren zuweilen zwanghaften Charakter nicht hinwegtäuschen. In einer Gemeinschaft können Einzelne sich diesen Verhaltensmustern nur um den Preis entziehen, »nicht dazuzugehören«. Nach der Befreiung von ihnen, die lange Zeit als eine Verheißung von Glück erschien, wächst freilich die Einsicht, dass das Glück auch von einer eigenen Arbeit an der Formgebung des Lebens abhängt. Nach einer historischen Phase des Verzichts auf beharrliche Formen des Lebens wirddas neuerliche Bedürfnis danach spürbar, denn die entstandene Formlosigkeit und Unverbindlichkeit haben eine Hilflosigkeit im Umgang mit sich und Anderen herbeigeführt, die sich im Leben vieler bemerkbar macht. Über die Befreiung von überkommenen Formen hinaus geht es in andersmoderner Zeit daher um eine Arbeit an Formen , an Regeln und Grenzen des eigenen Verhaltens, die nicht mehr die bedrückende, Individualität negierende Gestalt haben wie einst, sondern frei gewählt und veränderbar sind, um sich zwischen Beharrung und Veränderung hin- und herbewegen zu können.
Die Beziehungen des Einzelnen zu sich und zu Anderen zwischen Beharrung und Veränderung, Statik und Dynamik atmen zu lassen , gelingt am ehesten durch die Zeit hindurch, wenn auf eine Phase der Veränderung eine der Beharrung folgt, auf eine der Beharrung eine der Veränderung. Keine Stärkung der Statik kann die Dynamik der Veränderung des Lebens auf Dauer aushebeln, keine Stärkung der Dynamik kann das Bedürfnis nach Statik vergessen machen. Die Veränderung hat ebenso Recht wie die Erholung davon, das Atemholen zu neuer Bewegung, abhängig von der Situation. Der Forderung »Mehr Bewegung!« kommt dieselbe Berechtigung zu wie der gegenläufigen: »Mehr Beharrung!« Was in der jeweiligen Situation Vorrang haben soll, ist die immer neu zu klärende Frage; die Suche nach einer Antwort darauf lohnt jeden Streit. Bei einem Übermaß an Veränderung käme es darauf an, sich selbst zu fragen: Wo ist meine Beharrung , mein Ruhepunkt, meine Schwerkraft? Und ebenso in Beziehungen: Wo ist unsere gemeinsame Beharrung, und wie können wir unsere Beziehung mit beharrlichen Formen festigen? Bei einem Übermaß an Beharrung aber sich zu fragen: Wo ist meine Veränderung , meine Unruhe, meine Fliehkraft? Und ebenso in Beziehungen: Woist unsere gemeinsame Veränderung, und wie können wir unsere Beziehung durch Veränderung weiterentwickeln? Wenn aber jemand sich immer nur verändern will, kann das bedeuten, dass er seine Fähigkeit zur Beharrung verloren hat. Und wenn im Gegenteil von jemandem gesagt werden kann, er habe sich »nicht verändert«, kann das wohl nur heißen, dass er mit mehr oder weniger großem Erfolg dem Leben Widerstand leistet, das eigentlich in Veränderung besteht.
In aller Regel spüren Menschen selbst, zu welchem Zeitpunkt sie das Maß an Beharrung überdehnen; sie setzen dann von selbst auf Veränderung und bringen das eigene, gemeinsame oder
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