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Die Liebe atmen lassen

Die Liebe atmen lassen

Titel: Die Liebe atmen lassen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Schmid
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anvertraut werden kann, und sei es nur für eine Weile, bis ein anderer Stil angesagt ist.
    Die Fähigkeit zur Beharrung ist im alltäglichen Leben zu stärken durch die Einrichtung und Pflege von Gewohnheiten und Ritualen . Was wichtig erscheint im Leben, kann Gewohnheiten anvertraut und ritualisiert werden, um eine Realisierung nicht dem Zufall zu überlassen und nicht ständig neu darüber entscheiden zu müssen. Beziehungen zu sich und zu Anderen, Beziehungen der Liebe und der Familie, der Freundschaft und der Kooperation, auf andere Weise Beziehungen der Funktion und des Streits, der Feindschaft und selbst des Ausschlusses sind mithilfe von Gewohnheiten und Ritualen zu festigen. Im positiven Sinne ermöglichen sie, zusammenzukommen und sich auseinanderzusetzen nach einer festen Ordnung, ohne sich erst mühsam darüber verständigen zu müssen. Im negativen Sinne zementieren sie allerdings eine Hierarchie, eine Unversöhnlichkeit, eine Ignoranz für lange Zeit.
    Mit jeder Gewohnheit, jedem Ritual wird ein ontologischerAlgorithmus installiert, eine genau definierte Regel und Regelmäßigkeit, die selbsttätig und beharrlich an der Verwirklichung von Möglichkeiten arbeitet. Unermüdlich werden fortan Übungen absolviert, die auf Körper und Seele einwirken, regelmäßig die Gedanken meditiert, die dem eigenen Dasein einverleibt werden sollen, um in zahllosen Einzelschritten über lange Zeit hinweg Ziele zu erreichen, ohne noch viel darüber nachdenken zu müssen. In der individuellen Biographie wie in der allgemeinen Geschichte führt eine solche Beharrlichkeit die größten Veränderungen herbei. Da das auch ungewollt geschieht, ist es wichtig, einem bestehenden Algorithmus auf die Spur zu kommen, dessen unscheinbare Regel im Laufe der Zeit sehr reale Konsequenzen hervortreibt, schon bei einer regelmäßigen körperlichen Bewegung oder dem Mangel daran, erst recht bei Gewohnheiten des Fühlens und Denkens. Die Kunst besteht darin, willentlich selbst Algorithmen zu erfinden, sich Regeln zu geben, die den Schlüssel zur Umsetzung der Forderung Rilkes bilden können: »Du musst dein Leben ändern« ( Archaischer Torso Apollos , Gedicht, 1908). Aus der unbedeutenden Veränderung Tag für Tag wird die bedeutsame im Laufe der Zeit, denn steter Tropfen höhlt den Stein, stetes Sandkorn häuft den Berg. Die kleine alltägliche Arbeit summiert sich zum großen Werk des Lebens, der Beziehung, der Gesellschaft; das ist Teil der »Anthropotechnik«, zu deren Geschichtsschreibung und Deutung einige Skizzen bereitstehen (Peter Sloterdijk, 2009).
    Einmal begründet, sind Gewohnheiten und Rituale dazu da, gleichförmig wiederholt zu werden (»So wie immer!«), sodass sich die moderne Forderung, immer und überall neu entscheiden zu müssen, was zu tun und zu lassen sei, auf ein erträgliches Maß reduzieren lässt. Einen großen Teil des alltäglichenLebens dem gedankenlosen Vollzug gewohnter Gesten, Denkweisen, Sichtweisen und Handlungen anzuvertrauen, ist die Voraussetzung dafür, dem »Rest« umso größere Aufmerksamkeit widmen zu können, all dem also, was sich nicht von selbst versteht und nicht ohne Mühe, nicht ohne weiteres Nachdenken abläuft. Neurobiologisch korrelieren damit Bahnungen , verfestigte Schaltkreise neuronaler Netze, die hilfreich sind, um nicht ständig in aufwändiger Arbeit neue Synapsen entstehen lassen zu müssen. Das anstrengende Subjektsein kann partiell pausieren, zum Subjekt wird stattdessen die Gewohnheit etwa einer regelmäßigen Begegnung, die rituelle Gestaltung des Ablaufs: So entsteht eine Wohnung im umfassenden Sinne, vermittelt Vertrautheit und Geborgenheit im Leben und Zusammenleben. Bei jedem Zerbrechen einer Beziehung macht der Verlust lieb gewordener Gewohnheiten und Rituale schmerzlich klar, wie viel ihnen zu verdanken war: Wohl dem, der sich einige für sich selbst bewahrt hat, die ihn gerade dann, wenn er nicht mehr weiterweiß, inmitten von Angst und Weltschmerz, bei tiefen Einschnitten ins Leben und an den Grenzen des äußerst Befremdlichen noch halten. Sie tragen ihn durch die Leere der Sinnlosigkeit, die schwer zu verstehen und noch schwerer auszuhalten ist.
    Im Unterschied zur Routine , die oft sinnlos erscheint, leisten Gewohnheiten und Rituale einen Beitrag zur Sinngebung auf allen Ebenen, am stärksten erfahrbar in umfangreichen festlichen Ritualen: Sie ermöglichen sehr viel körperlichen, sinnlichen Sinn des Sehens, Hörens, Riechens, Schmeckens, Tastens, Bewegens und

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