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Die Liebe atmen lassen

Die Liebe atmen lassen

Titel: Die Liebe atmen lassen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Schmid
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umzugehen weiß. Über der Suche nach Wahrheit die Arbeit an der Lebenskunst zu vernachlässigen, rächt sich eben; daher sind Frauen, die ohne letzte Wahrheit auskommen, wohl die besseren Lebenskünstler. Die Männer werden nachzuarbeiten haben. Zumal in einer Situation, in der für eine wachsende Zahl das Mannsein von Grund auf neu in Frage steht.

Die Kunst, ein Mann zu sein:
Müssen Männer sich neu erfinden?
    Beide Geschlechter leben im Rahmen der jeweiligen Zeit, die auf sie einwirkt und auf die sie zurückwirken: Auf die Erfahrungen, die sie machen, antworten sie mit ihrer Art zu leben, die wiederum peu à peu die Zeit verändert. Die gesamte moderne Zeit war, ausweislich der Aufklärer, die sie vorbereiteten, im Wesentlichen eine männliche Erfindung, wenngleich mit wirksamer weiblicher Unterstützung (ohne Leserinnen kein Schrifttum der Aufklärung). Für jeden Menschen sollte mit der Emanzipation , mit der Entlassung Abhängiger in die Freiheit ( emancipare im Lateinischen), mit der Befreiung von Fesseln der Religion, Tradition, Konvention und Natur, eine eigenständige, autonome Lebensgestaltung möglich werden. So jedenfalls die Idee, an deren Realisierung Männer jedoch vor allem für sich selbst arbeiteten: Sie erklärten die Menschenrechte für alle Menschen, um sie dann in erster Linie für sichselbst in Anspruch zu nehmen. Hatte die Französische Nationalversammlung 1792 noch in Mann und Frau die gleichberechtigten Partner eines Ehevertrages gesehen, bekräftigte Napoleon zehn Jahre später bei den Beratungen im Staatsrat über den Code civil die alten Machtverhältnisse: »Die Natur hat unsere Ehefrauen zu unseren Sklaven gemacht.«
    Es waren Männer, die das Reale auf das rational Erfassbare reduzierten und eine lineare, nichtzyklische Zeitauffassung etablierten, um einen planmäßigen Fortschritt zu realisieren; so erarbeiteten sie die Moderne, in der sie selbst sehr viel äußere Freiheit erreichten: Größere soziale Mobilität durch Erwerbsarbeit (die Frauen lange versagt blieb), größere körperliche Mobilität durch Technik (die lange eine männliche Domäne bleiben sollte), größere geistige Mobilität durch Wissenschaft (in der Frauen lange Zeit Ausnahmen blieben), erkauft durch eine gehemmte Mobilität von Gefühlen und Deutungen. Frauen blieb nur die Weiterentwicklung der inneren Freiheit , die größere Mobilität von Gefühlen (oft als »Hysterie« abgetan) und von gedanklichen Deutungen, verbunden mit üppig betriebener Lektüre (oft als »Lesesucht« abgestempelt). Das sollte sie über die Immobilität in sozialen Rollen, die Männer ihnen zuwiesen, und über den weitgehend verwehrten Zugang zu deren Domänen Arbeit, Technik, Wissenschaft, Politik hinwegtrösten. Erst nach langem Kampf um ihre eigene Emanzipation, teils mithilfe von Männern, zum größeren Teil gegen sie, konnten Frauen die Möglichkeiten der Moderne auch für sich selbst nutzen und zu ihrer inneren Freiheit die äußere erstreiten, mit eigener Erwerbsarbeit und Bewegungsfreiheit, Aneignung von Technik, Wissenschaft und Politik, und insbesondere einer eigenen Beanspruchung von Rechten. Dass der Mann in familiären Angelegenheitendas Alleinentscheidungsrecht, die Frau die »Folgepflicht« hat, wurde beispielsweise im westdeutschen Familienrecht 1957, endgültig erst 1977 geändert.
    Mit der Auflösung überkommener Rollen aber gehen Irritationen der Männer einher. Die weibliche Eroberung »männlicher« Freiheit, die Selbstbefreiung vieler Frauen aus alten Rollen führt dazu, dass Männer sich mehr und mehr »ausgehebelt« sehen und darauf mit Verunsicherung reagieren; eine eigene Arbeit an innerer Freiheit um einer veränderten Souveränität willen kommt vielen erst allmählich in den Sinn. Die Moderne selbst entgleitet ihnen, Frauen scheinen die moderne Beweglichkeit von Menschen, Dingen und Situationen besser bewältigen zu können und sind wohl auch eher in der Lage, diese Zeit zu modifizieren: Die andere Moderne des 21. Jahrhunderts fällt im Vergleich zur Moderne des 19. und 20. Jahrhunderts weiblicher aus, mit größerer Aufmerksamkeit auf ökologische und soziale, nicht mehr nur ökonomische und rationale Zusammenhänge, und mit mehr Zeitinseln einer zyklischen Zeit, die die lineare Zeit ergänzen. Manche Frauen gehen ihren Weg, ohne sich noch weiter um Männer zu bekümmern, andere sind beunruhigt von deren Irritation. Dass viele Frauen sich nach historisch langer Benachteiligung nicht durchweg ins

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