Die Liebe atmen lassen
Frauen aber nehmen Umwege in Kauf, tauschen Erfahrungen aus und fragen sich und Andere stets aufs Neue, ob sie auf dem richtigen Weg sind. Die unterschiedlichen Lebensstrategien wirken sich in moderner Zeit auf die Art des Reisens aus: Männer bevorzugen die theoretische Übersicht von Stadtplänen und Landkarten und verlassen sich auf die eigene Orientierung im Denken. Frauenbevorzugen eher praktische Beschreibungen in Reiseführern und lassen sich vor Ort die Wege von denen erklären, die sich gut auskennen.
Was Ziele betrifft, gehen Männer oft monoteleologisch , »einzielig« vor: Sie definieren ein Ziel ( telos ), marschieren ohne Verzug direkt darauf zu und sind nicht erfreut, wenn ihnen etwas oder jemand in die Quere kommt. Dinge und Menschen haben zu funktionieren im Hinblick auf das Ziel, dem alle Konzentration gilt. Auf dem Weg dorthin ist es wichtig, Kräfte zu sammeln und zusammenzuhalten; aus diesem Grund äußert so mancher Mann sich ungern und nur dann, wenn es »zielführend« oder sonst wie unvermeidlich ist: Die verbale Verausgabung ist eine Verschwendung von Kraft, die Einzieligkeit erzwingt Einsilbigkeit. Auch Gefühle werden aus diesem Grund zurückgehalten: Die Energie, die in ihnen steckt, würde in Gefühlsäußerungen nur verpuffen. Frauen hingegen gehen oft polyteleologisch vor, »vielzielig«, spielen mit Zielen, verfolgen diverse Ziele, fassen einen ganzen Zielhorizont ins Auge und lassen auch den Weg schon als Ziel gelten. Sie sind bereit, ihre Kraft zu streuen, setzen an verschiedenen Punkten an, scheinen sich zu verzetteln, verfügen im Zweifelsfall aber über Ausweichmöglichkeiten. Sie sind vorsichtig, zuweilen skrupulös bei der Umsetzung in ein Tun, das eher im Stillen vor sich geht, während Männer nicht selten vorzeitig damit prahlen, mit und auch ohne Grund. Auf unvorhergesehene Situationen reagieren Frauen, indem sie sich um das Nächstliegende bemühen und der Besonderheit der Herausforderung Rechnung tragen. Da sie keiner abstrakten Logik folgen, können sie der Logik des Lebens, seinen Regelmäßigkeiten, Eigentümlichkeiten, Zufälligkeiten, Widersprüchlichkeiten besser entsprechen, statt dagegen anzuleben. Dasversetzt sie in die Lage, Geschehenes rascher zu akzeptieren, keine Kräfte in geschlagenen Schlachten zu vergeuden und in der gegebenen Situation nach gangbaren Wegen zu suchen, vielleicht sogar das, was anders als gedacht gekommen ist, als interessante Abwechslung zu begreifen, während Männer noch damit beschäftigt sind, darüber zu klagen, dass es nun ist, wie es ist, und mit dem Schicksal zu hadern.
Der entscheidende Unterschied, der Frauen wohl einen Vorteil bei der Lebensbewältigung verschafft, ist aber ihre hermeneutische Beweglichkeit . Anders als viele Männer sind sie an anderen Sichtweisen und Möglichkeiten der Deutung interessiert, an denen sie mithilfe von Bildung und Weiterbildung, Kunst und Literatur unentwegt arbeiten. Der Büchermarkt und viele kulturelle Veranstaltungen zeigen immer wieder das gleiche Bild: Der deutlich größere Teil des Publikums ist weiblich. Eigenartig, wie die Anteile sich verkehren, wenn Menschen ihr Leben selbst beenden: Die weitaus meisten Selbsttötungen werden von Männern vollzogen. Die Kriminalstatistik zeigt eine noch extremere Verteilung zu Ungunsten der Männer. Das legt den Schluss nahe, dass Frauen in schwierigen Lebenssituationen eher aus dem rechtzeitig erworbenen hermeneutischen Potenzial schöpfen können, das ihnen ermöglicht, Dinge noch anders zu sehen und anders zu deuten, andere Wege zu gehen und so auch aus Sackgassen des Lebens wieder herauszufinden. Selbst die offensichtlichste Wirklichkeit können sie noch in Frage stellen, den vertrautesten Begriff neu überdenken, immer kann in ihren Augen noch etwas Anderes wahr sein. Männer hingegen neigen eher dazu, auf ihrer Sichtweise und ihren Begriffen zu beharren, nicht nur gewagte Behauptungen über die Wirklichkeit aufzustellen, »wie sie ist«, sondern sich auch darin einzuschließen.Sie wollen wissen, »was Sache ist«, und legen im Zweifelsfall die Sache per Definition selbst fest.
Frauen nehmen zudem das Bedürfnis nach Sinn im Leben ernst, auf jede Weise und auf allen Ebenen, beginnend mit dem Sinn der Sinnlichkeit . Sie schöpfen das Potenzial der Sinne aus, können sich teilweise auch der besseren biologischen Ausstattung dazu bedienen, etwa beim Geruchssinn, bei dem ihnen eine größere Anzahl von Rezeptoren eine differenziertere Wahrnehmung
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