Die Liebe atmen lassen
der Möglichkeiten, der die Liebe von Anfang an zu einem Spiel macht, in den Augen vieler zum spannendsten Spiel überhaupt. Soll es wirklich ein Spiel sein, kein Zwang, ist Freiwilligkeit dafür die unabdingbare Grundlage; dann erst stellen sich Fragen: Was genau soll gespielt werden, auf welcher Ebene, körperlich, seelisch, geistig? Welche Möglichkeit soll realisiert werden, wie und mit welchem Einsatz, welchem Risiko, welchem Spielraum und wie lange? Bis zu welchem Punkt lässt der Andere mit sich spielen, sich also als Möglichkeit behandeln? Bis zu welchem Punkt bin ich selbst bereit, nur eine Möglichkeit für ihn zu sein? Die Antworten darauf sind Festlegungen , mit denen sich jedoch der Charakter des Spiels ändert, denn die ontologische Ebene wird damit gewechselt: Anders als beim Spiel, das noch in der Formlosigkeit der Möglichkeiten schwelgen konnte, wird aus dem Spiel nun eine Wirklichkeit, die dem Leben und Lieben Form gibt. Manche versuchen das zu verhindern, indem sie sich weiterhin alle Möglichkeiten offenhalten; viele geraten in Nöte, da sie auf den Übergang zur Wirklichkeit nicht vorbereitet sind.
Die Kunst des Liebens endet nicht damit, dass zwei sich endlich finden, sondern wandelt sich zur Arbeit an der Begründung, Absicherung und Ausgestaltung der Beziehung. Ein reales Können auf der ontologischen Ebene der Wirklichkeit ist erforderlich, um Möglichkeiten zu verwirklichen , immer nur eine oder wenige, denn viele oder gar alle zugleich ist ontologisch unmöglich. Auf dieser Ebene ist Kunst die Fähigkeit zur Verwirklichung, um »Erfahrungen zu machen«, denn mehr noch als nach Möglichkeiten sehnen Menschen sich nach wirklichen Erfahrungen. Erfahrung geschieht, wenn eine Möglichkeit wirklich wird, und Erfahrung macht klüger, denn sie klärt, was wirklich werden kann und was nicht: So entsteht der Wirklichkeitssinn . Entscheidend dafür ist das Anfangenkönnen, bei jeder Verwirklichung gibt es ein »erstes Mal«, das die vollkommene Faszination der Möglichkeiten noch in sich birgt, insbesondere im Fall der Liebe. Hinreißend sind die Blicke des Einverständnisses mit dem Anderen, das Elektrisiertsein von seiner Berührung, die Erfahrung, wie es sich anfühlt, ihn im Arm zu halten, die Konturen seines Körpers zu ertasten und mit den Lippen zu erkunden: It Started With a Kiss (Popsong, Hot Chocolate, 1982).
Überwältigend an den ersten Erfahrungen ist die ontologische Erschütterung , die damit einhergeht, wenn die Welten aufeinanderstoßen; der Wechsel der Seinsebenen lässt die Beteiligten regelrecht erzittern und erbeben. Noch für eine ganze Weile befeuert die Energie der Möglichkeiten die entstehende Wirklichkeit, sodass alles, was schwer erschien, leichtfällt, Aufstehen beispielsweise: Das Selbst fühlt sich belebt von einer neuen Kraft, die in ihm wirksam ist und doch nicht von ihm selbst stammt, denn aus sich heraus konnte es diesen Antrieb zuvor nicht gewinnen. Eben noch sehr auf sich bedacht,verwandelt es sich in ein weites Selbst, das ganz für den Anderen da sein will, nur an ihn denken kann und zugleich die ganze Welt umarmen möchte. Das große Abenteuer der Verwirklichung mit ihren vielen Ungewissheiten beginnt, schreibt Lebensgeschichten und hinterlässt dauerhafte Spuren in Körper, Seele und Geist der Beteiligten, denn von nun an ist nichts mehr einfach zu revidieren.
Auf diese andere Phase des Spiels sind die Liebenden selten gefasst, daher die verbreitete Auffassung: »Die Liebe ist ein seltsames Spiel« (Connie Francis, Popsong, 1960). Die mögliche Liebe, die wirklich wird, ist sehr bald mit den Bedingungen der Wirklichkeit konfrontiert. »Anzukommen in der Wirklichkeit«, das ist vor allem die Erfahrung einer energetischen Abkühlung, die mit der Verfestigung von Wirklichkeit einhergeht. Was Spaß gemacht hat, solange es problemlos wieder von vorne begonnen werden konnte, wird zum Ernst , sobald ein Neustart nicht so ohne Weiteres mehr möglich ist, jedenfalls nicht zwischen denselben Spielern. Bald wird klar, dass das Spiel nicht immer nur Freude macht, sondern, wie jedes Spiel, auch die Möglichkeit von Enttäuschung in sich birgt. Anders als beim Vorspiel geht es nicht mehr nur um ein unverbindliches Jonglieren mit Möglichkeiten, vielmehr wächst mit der Bindung an den Anderen die Verbindlichkeit . Weiterhin handelt es sich um ein Spiel, insofern es ergebnisoffen ist, aber nirgendwo steht geschrieben, dass die Umwandlung einer Möglichkeit in Wirklichkeit
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