Die Liebe atmen lassen
wachsender Erfahrung . Erfahrungen ergeben sich nicht nur von selbst, sondern sind auch willentlich zu befördern durch Experimente, auch in der Beziehung und mit ihr; selbst ein Scheitern trägt zum Prozess der Erfahrung bei. Der Gewinn einer Erfahrung wird größer, wenn eine Besinnung auf sie folgt, um Schlüsse aus ihr zu ziehen und neue Orientierung zu gewinnen. Je reicher Erfahrung und Besinnung, desto stärker das Feingefühl des Gespürs , das Aufspüren von Zusammenhängen und somit von Sinn: Ein ausgeprägter Kunstsinn geht daraus hervor. Das Gespür ist nicht irrtumsfrei und muss es auch nicht sein: Nach jedem Irrtum erspürt es besser als zuvor, worauf es ankommt, lässt sich nicht vom ersten Blick schon beeindrucken, sondern entwickelt die Kunst des zweiten und dritten Blicks für die Gegebenheiten und Besonderheiten, die nicht offen zutage liegen, damit klüger, rücksichtsvoller, umsichtiger, vorsichtiger und vorausschauender vorgegangen werden kann. Auf der Grundlage der Fehler und Irrtümer, aus denen gelernt wird, entstehen Virtuosität und Raffinement, die auch das ernste Spiel zur Freude machen. Das Gespür wird zum besseren Ratgeber, als leidenschaftliches Gefühl oder nüchternes Denken es für sich allein je sein könnten. Ein Problem erwächst lediglich aus der Inflation von Erfahrungen in moderner Zeit, die mit einer Reduktion der Möglichkeiten zur Besinnung einhergeht; zu sehrsetzt die moderne Kultur auf Aktivismus und Ablenkung, sodass Passivismus und Nachdenklichkeit dem Verdacht des »Negativismus« ausgesetzt sind: So werden Erfahrungen verschenkt, ohne ein Geschenk für irgendjemanden zu sein.
Spätestens auf der dritten Könnensstufe wird klar, dass auch für die Kunst des Liebens das Diktum gilt: »Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit« (Karl Valentin als Zirkusdirektor Rudolph Brummer im Film Die verkaufte Braut , Regie Max Ophüls, Deutschland 1932). Dass die Liebe Arbeit ist, dass dies ein Element des Spiels ist: Zu dieser Einsicht sind nicht etwa nur wirklichkeitsnahe Pragmatiker, sondern auch möglichkeitstrunkene Romantiker in der Lage. Die Menschen seien in Gefahr, die Liebe falsch zu verstehen, denn »sie haben sie zu Spiel und Vergnügen gemacht, weil sie meinten, dass Spiel und Vergnügen seliger denn Arbeit sei; es gibt aber nichts Glücklicheres als die Arbeit, und Liebe, gerade weil sie das äußerste Glück ist, kann nichts anderes als Arbeit sein«. Rainer Maria Rilke, der dies schreibt, nennt die Liebe daher »etwas Schweres«, man müsse sie »ernst nehmen und leiden und wie eine Arbeit lernen« (Brief vom 29. April 1904, Über die Liebe , Sammelband, 2004, 107).
Und auch Erich Fromm, der die Aufgabe der Ausarbeitung einer neuen Kunst des Liebens in der Moderne formulierte, um über enttäuschungsanfällige Träume von Harmonie und Einssein hinauszukommen, machte »Wissen und Bemühung« für die Liebe geltend: »Am Anfang ist sich jedoch niemand darüber klar« ( Die Kunst des Liebens , 1956, Kapitel I). Daher sei es sinnvoll, in der Liebe mehr zu sehen als ein Gefühl, in dem die Liebenden ohne Unterlass schwelgen könnten: Sie sei vielmehr auch eine Haltung, die sie einnehmen, und eine Tätigkeit, die ihnen durch andauernde Übung leichter vonder Hand gehe. Wer sich über die ersten Anfänge hinaus das Lieben leicht machen wolle, erreiche dies am besten mithilfe von Übung und Gewöhnung, ganz so wie bei den Künsten des Schreibens, Malens, Musizierens, vergleichbar mit einem Handwerk und mit jeder Art von technischer Handhabung, diesen Künsten im weiteren Sinne.
Mit dem dreifachen Können der Ermöglichung, Verwirklichung und exzellenten Verwirklichung gelingt es, aus dem Leben und der Liebe eine Kunst zu machen. Mit dem Durchlaufen der drei Ebenen ist die Arbeit jedoch keineswegs beendet, sondern beginnt wieder von vorne. Das gilt nicht etwa nur für eine neue Beziehung, für die mit dem Woo-Effekt ausladender Blumensträuße und glühender Liebesschwüre neue Möglichkeiten erschlossen werden, sondern auch innerhalb der bestehenden Beziehung selbst, in der das Finden, Erfinden und Erschließen neuer Möglichkeiten dafür sorgt, dass das gemeinsame Leben einfallsreich bleibt und nicht im Immergleichen versinkt. Was den Anfang der Beziehung so bezaubernd gestaltet hat, kann sie zwischendurch auch wieder von Neuem beleben; was frühlingsfroh begonnen hat, reicht auch für den zweiten Frühling , und dies nicht nur einmal, sondern viele Male. Auch in
Weitere Kostenlose Bücher