Die Liebe atmen lassen
auch gelingen muss. Viele Unwägbarkeiten gehen damit einher, dass mehr als einer spielt , mindestens ein Anderer, der nicht immer dasselbe will wie das Selbst. Reizvoll wäre, mit verteilten Rollen zu spielen, wie bei einem Theaterspiel: So könnten beide ihre Möglichkeiten besser zur Geltung bringen, anstatt sich wechselseitig volleÜbereinstimmung in allen Fragen abzuverlangen. Problematisch ist die provisorische Einrichtung der gemeinsamen Wirklichkeit, bis eine endgültige Entscheidung darüber getroffen werden kann: Provisorien bleiben für lange Zeit, daher lohnt es sich, einen Moment länger darüber nachzudenken, welches Provisorium wünschenswerter wäre. Regelmäßigkeiten bilden sich heraus, die das Spiel strukturieren, aber auch Routinen entstehen lassen, die den Horizont der Möglichkeiten verengen und schließlich gänzlich zu verschließen drohen. Regeln dienen der Begrenzung des Spiels, damit nicht jederzeit alles möglich ist; aber nach welchen Regeln gespielt werden soll, müssen die Liebenden selbst erst festlegen, und auch, was geschehen soll, wenn einer die Regeln verletzt.
Zu ihrer Realisierung braucht die Liebe einen räumlichen Rahmen , ein »Spielfeld«, um bei der häufigen Dislokation moderner und wohl auch andersmoderner Liebender sich nicht bald schon wieder im Raum zu verlieren. Für den zeitlichen Rahmen , den das Spiel braucht, sorgt im Grunde das Leben selbst, aber diese bange Frage steht rasch im Raum: Wann und unter welchen Umständen wird das Spiel abgepfiffen? Sicher ist nur, dass die Uhr läuft: Was beginnt, wird auch enden, sei es vorzeitig im Falle einer »Lebensabschnittsbeziehung« oder zeitlich erfüllt bei einer Beziehung fürs Leben, die allenfalls der Tod begrenzt, was immer über diese Grenze hinaus sein wird. Zufälle sind der unkalkulierbare Faktor auch in diesem Spiel, und die Kunst besteht darin, sie für die Beziehung zu nutzen. Kunstgriffe zu kennen ist hilfreich, um etwa mit einer einzigen Geste den Knoten entwirren zu können, in dem sich die Fäden der Beziehung zuweilen verfangen. Machtspiele mit Taktik und Strategie durchziehen das Spiel der Liebe, wie viele andere Spiele, und sind nur mit Mühe in Grenzen zuhalten. Ungeliebt, aber unabweisbar ist die Rolle von Zuschauern , vor deren Augen sich die Liebe in allen Phasen abspielt, von ihnen kommentiert und beurteilt, nicht immer ohne Rückwirkung auf die Liebenden. Den hilfreichen Blick von außen aber, der oft mehr sieht als die Beteiligten selbst und zu ihrer Orientierung beitragen kann, repräsentieren beste Freunde und professionelle Berater. Und wie bei allen Spielen sind nicht nur die Niederlagen eine Herausforderung, sondern auch die Siege , die die Beteiligten übermütig und leichtsinnig werden lassen.
Ihre eigentliche Erfüllung findet die Kunst des Liebens wie alle Künste letztlich darin, mit einem exzellenten Können auf der Ebene der Wirklichkeit Möglichkeiten gekonnt zu verwirklichen . In dieser gesteigerten, verfeinerten Form von Kunst geht es darum, so gut wie möglich lieben zu lernen und Möglichkeiten auf unnachahmliche Weise zu realisieren. Analog zu einem Ball, der nicht nur irgendwie, sondern auch genial gespielt werden kann, oder zu einem Pinselstrich, der nicht nur mal eben so, sondern auch raffiniert auf eine Leinwand zu setzen ist, lässt eine Beziehung sich nicht nur halbherzig, sondern auch mit ganzem Einsatz gestalten. Anders als die einfache Realisierung erfordert diese Könnensstufe die Bereitschaft zur unablässigen Übung und endlosen Wiederholung , dieser »Mutter des Lernens«: Repetitio est mater studiorum . Wer tagtäglich zwei, drei Stunden in diesen ontologischen Algorithmus investiert, und dies über Jahre hinweg, wird zum Meister in jeder Kunst, auch in der Kunst des Liebens. Was immer die Liebenden miteinander tun können, eignet sich zur Übung und Wiederholung, um die jeweiligen Vollzüge bis zu jener Exzellenz zu steigern, die eine tiefe Befriedigung vermittelt, da sie aus dem gewöhnlich Wirklichen herausragt, und auch,weil sie dem Selbst die Wertschätzung des Anderen einträgt, die es sich erhofft. Und doch ist Exzellenz nicht durchgängig, nur phasenweise zu erreichen, nicht in allen Belangen, nur in vereinzelten Highlights . Nie ist die ebenso mögliche Defizienz , die gelegentliche Unzulänglichkeit und das Versagen zu verleugnen: Unter Göttern mag es Vollkommenheit und Fehlerlosigkeit geben, nicht aber unter Menschen.
Der Weg zur Exzellenz ist der Weg
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