Die Liebe atmen lassen
entscheiden haben (William Hill Collingridge, How to Woo, When, and to Whom , 1855). Selbstder Meister der Umwerbung, Giacomo Casanova, scheute sich nicht, mit materiellen Gütern zu locken, unabhängig davon, ob er sie auch besaß, wenngleich er am liebsten mit Witz und Esprit imponierte: So gewann er die Gunst vieler Frauen. Casanova führt vor, wie leicht der Andere von innen her aufzuschließen ist und geradezu von Euphorie überwältigt wird, wenn das Selbst ihm entgegenkommt, sich für ihn interessiert, mit einer aufrichtigen Neugierde insbesondere für das Geheimnisvolle, das ihm innewohnt. Darin besteht das Geheimnis seiner Kunst des Liebens: Die Selbstliebe eines Anderen so zu bestärken, dass er sich in ungeahntem Maße öffnet und den zu lieben beginnt, der ihm dazu verholfen hat: Casanovas posthum publizierte Geschichte meines Lebens stellt ein zeitloses Studienobjekt für jeden dar, der die Kunst des Umwerbens als Element der Liebeskunst begreift.
Mit guten Gründen konnte der große Liebhaber die Behauptung zurückweisen, er sei ein Verführer gewesen: Casanova ist kein Don Juan, der kommt, siegt und geht; er verweilt. Zwar will auch er in Versuchung führen , aber er respektiert die selbstbestimmte Wahl des Anderen, während die Verführung darauf zielt, den Vorgang abzukürzen: Sie ist die Aushebelung der Selbstbestimmung des Anderen mit Mitteln, die ihm selbst gefallen, jedenfalls jetzt. Spricht die Umwerbung noch die Überlegung an und versucht, etwas in Gang zu bringen, das an Eigendynamik gewinnen kann, wirft die Verführung eine Nebelmaschine an, die keinen klaren Gedanken mehr zu fassen erlaubt, sodass der Betroffene sich wie hypnotisiert dorthin führen lässt, wo er nie hinwollte (Robert Greene, Die 24 Gesetze der Verführung , 2001). Die Umwerbung erschließt ein Potenzial und eröffnet Möglichkeiten, um dem Anderen allmählich näher zu kommen, ihn auf irgendeiner Ebene zuberühren und von ihm berührt zu werden. Die Verführung aber drängt zum Akt , gerne gleich auf körperlicher Ebene; der Verführer will zügig zur Wirklichkeit gelangen und sucht rasch das Vertrauen des Anderen zu gewinnen, um ihn besitzen zu können, zu diesem Zweck vorübergehend auch von ihm besessen zu sein. Die beiden Vorgehensweisen bewegen sich auf unterschiedlichen ontologischen Ebenen und sind doch mit vergleichbaren Risiken behaftet: Wer allzu geduldig umwirbt, riskiert, nie zum Zug zu kommen; wer allzu rasch verführen will, läuft Gefahr, mangels Umwerbung gar nicht erst in Betracht gezogen zu werden. Idealerweise endet die Phase der Umwerbung mit der Zustimmung des Anderen, sodass es keiner Verführung mehr bedarf. Wenn aber doch, ist Ovid hilfreich, der im Umwerben und Anfragen ( rogare ) nur die notwendige Vorstufe zur Verführung sieht: Der so verstandenen »Kunst des Liebens« ( Ars amatoria ) setzt er just zur Zeit der Entstehung der christlichen Idee von Liebe im 1. Jahrhundert n. Chr. ein weltliches Denkmal, als ginge es darum, sie für eine lange Zeit des Vergessens zu rüsten.
Eine erneuerte Kunst des Liebens in andersmoderner Zeit könnte der Kunst endlich dazu verhelfen, »organische Funktion« zu werden und als »größtes Stimulans« das Leben schöner und bejahenswerter machen, wie Nietzsche es sich erträumte (Nachlass vom Frühjahr 1888, Kritische Studienausgabe , 13, 299). Auch diese Kunst kommt von Können , auch bei ihr ist das Können jedoch nicht von selbst schon gegeben, sondern muss in einem langen Prozess des Lernens und Übens, der Erfahrung und Besinnung erst erworben werden: Ein Prozess, der nie abgeschlossen ist. Wie bei allen Künsten geht es um eine Dreistufigkeit des Könnens , beginnend mit dem virtuellen Können auf der ontologischen Ebene der Möglichkeiten: VonBedeutung ist zunächst, Möglichkeiten zu erschließen , etwa von Beziehungen zu träumen, sie sich und Anderen »auszumalen« und mit Umwerbung und Verführung zu ermöglichen, ohne sie schon gleich verwirklichen zu können. Auf dieser Ebene ist die Kunst eine Erkundung von Möglichkeiten; auch virtuelle Medien können dafür zuhilfe genommen werden.
Der Möglichkeitssinn des Einzelnen wird gespeist von seiner Kreativität, von der Neugierde, die ihn umtreibt, von den Träumen und Sehnsüchten, die Möglichkeiten aufspüren können, von der inneren Unruhe und von Bedürfnissen, die ihn selbst und Andere bewegen, von der Aufmerksamkeit auf das, was fehlt, was schön wäre und was gut tun würde. Es ist der Reiz
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