Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Liebe atmen lassen

Die Liebe atmen lassen

Titel: Die Liebe atmen lassen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Schmid
Vom Netzwerk:
Anderen stellen oder nicht stellen, wann zu wem was sagen oder nicht sagen? Könnte ich das alles auch offen handhaben? Habe ich andere Optionen ausgeschöpft? Denn eine mögliche Option ist grundsätzlich auch, sich um mehr Erfüllung im Leben mit dem vertrauten Anderen zu bemühen: Ihn mit Sinnlichkeit, Gefühlen und Gedanken so zu erfüllen, dass er mit dieser Fülle umgekehrt wiederum mich erfüllen kann, sodass kein Bedürfnis nach einer anderen Beziehung mehr entsteht. Wenn dafür eine Veränderung der bestehenden Beziehung erforderlich erscheint, kann das der Anlass zu einem Neuanfang sein; und wenn eine Veränderung sich als unmöglich erweist, läge eine Trennung womöglich näher als der Verrat.
    Gründe für den Verrat gibt es viele, auch dafür, dass er nicht offen eingestanden werden kann, sondern geheim gehaltenwerden muss, sodass nur dem »Verräter« selbst klar ist, was geschieht: Weil er die möglichen Konsequenzen der Offenheit scheut, etwa den Ärger, der die Zusatzbeziehung erschweren würde, oder die Misslichkeit, dass der vertraute Andere seinerseits eine Zusatzbeziehung anstreben könnte und die bestehende Beziehung darüber letztlich zerbräche. Zweifellos wäre eine formelle Kündigung früherer Vereinbarungen die bessere Lösung, aber auch das würde der Andere wohl als Verrat empfinden: »Du wirfst alles weg, was wir gemeinsam aufgebaut haben!« Der Verräter könnte entgegnen: »Ich will aber nicht weiter so leben wie bisher!« Denn was in seinen Augen schwerer wiegt als die Bewahrung der gemeinsamen Wirklichkeit, ist der Verrat an den eigenen Möglichkeiten, auch an den ungelebten Möglichkeiten in der bestehenden Beziehung. Hält er die Verhältnisse in der Beziehung zum Anderen für unerträglich, kann der Verrat aus seiner Sicht sogar gerechtfertigt sein. Der Verrat am Anderen und an der Beziehung zu ihm kann Treue zu sich selbst sein, die Treue zum Anderen hingegen ein Verrat an sich selbst . Der Einzelne selbst muss entscheiden, welche Treue Vorrang haben soll, zu welcher Art von Verräter er werden will. Sich selbst treu zu sein heißt, an den Eckpunkten des eigenen Kerns festzuhalten, zu denen allerdings vorweg die wichtigsten Beziehungen zu Anderen gehören: Die Treue zu sich selbst kann also auch die zum vertrauten Anderen verlangen, ein Festhalten an der Beziehung zu ihm durch alle Verlockungen von außen und Bedrängnisse von innen hindurch, solange das Ja zu ihm in Kraft bleibt: Was wäre davon ausgehend für die Beziehung zu ihm zu tun? Was bin ich bereit, dafür aufzugeben, was nicht? Wozu ist der Andere bereit?
    Die Beziehung steht jedoch in Frage, wenn andere Eckpunkte des Selbst wichtiger erscheinen, etwa die Treue zu bestimmten Erfahrungen und zu den Schlüssen, die daraus gezogen werden, um nicht immer wieder die gleichen Fehler zu machen; auch die Treue zu eigenen Träumen, Sehnsüchten und Ideen vom Leben, zu Wegen und Zielen; die Treue zu Werten wie etwa Freiheit und Unabhängigkeit, sofern sie Vorrang haben sollen; die Treue zu Gewohnheiten, die das Selbst nicht aufgeben will, und zu Charakterzügen, von denen es glaubt, sie nicht ändern zu können; die Treue auch zu Verletzungen, die vielleicht in der bestehenden Beziehung erfahren worden sind und die das Selbst, das nicht vergessen kann, in der anderen Beziehung heilen zu können hofft. Kurioserweise können auch Ängste, insbesondere die Angst vor dem Verlassenwerden, ein Grund für Untreue sein: Wenn der Andere geht, so die Hoffnung, bleibt noch ein anderer Anderer. Und eine große Rolle spielt schließlich die Treue zum Schönen , um dessentwillen das Leben bejahenswert erscheint und das in einer anderen Beziehung lockt, während in der bestehenden Beziehung zu viel Unschönes die Faszination des Schönen auslöscht. Unschön können Langeweile und Streit, schön kann die schiere Neugierde auf »etwas Anderes« sein, der Reiz des Verbotenen, auch die Rache für einen Verrat des Anderen, die neue Aussicht auf eine Erfüllung von Wünschen, die Wertschätzung, die lange entbehrt worden ist und beim anderen Anderen erfahrbar wird. Oft geht die Untreue einher mit der »Suche nach einem frischen neuen Bild von sich selbst, aufregender, verführerischer und attraktiver« als das vom bisherigen Anderen dem Selbst vermittelte (Richard David Precht, Liebe – Ein unordentliches Gefühl , 2009, 204).
    Für den betroffenen Anderen stellt sich im Gegenzug die Frage: Gibt es ein Leben mit dem Verrat? Er allein hat

Weitere Kostenlose Bücher