Die Liebe atmen lassen
recht Lüge muss dem Selbst bis in alle Verästelungen hinein ohne Unterlass so präsent sein, wie dies mit der Erinnerung an die Wahrheit ganz von selbst geschieht. Aktuelle Aussagen dürfen früheren nicht widersprechen, jedenfalls nicht allzu auffällig; auf überraschende Rückfragen muss rasch eine Antwort parat sein. Gründe der Klugheit geben daher den Ausschlag dafür, im Zweifelsfall die Wahrheit zu sagen. Als Richtschnur kann dienen, prinzipiell die Wahrheit zu sagen, schon weil sie nicht so anstrengend ist, aber zu Ausnahmen in der Lage zu sein, schon um sich die geistige Herausforderung zu erhalten: Die Lüge aktiviert verschiedene Hirnareale, fördert die Phantasie, schult das Gedächtnis und steigert die Geistesgegenwart. Auch der Belogene wird geschult: Mit der Übung, Lügen zu durchschauen, wächst sein Scharfsinn.
Das individuelle Klugheitskalkül führt zu einem Wahrheitsmanagement , um das Ob, das Ausmaß und den Zeitpunkt der Offenlegung von Wahrheit festzulegen, mit dem nötigenGespür für alle Beteiligten und die jeweilige Situation, sowie mit dem Vorsatz, so wenig Lüge wie möglich einzusetzen, das Schweigen nach Möglichkeit der offenen Lüge vorzuziehen, um nicht die ganze Wahrheit zu sagen. »Nicht alle Wahrheiten kann man sagen, die einen nicht, unser selbst wegen, die andern nicht, des Andern wegen«, meinte einst Gracián und empfahl: » Ohne zu lügen, nicht alle Wahrheiten sagen . Nichts erfordert mehr Behutsamkeit als die Wahrheit: sie ist ein Aderlaß des Herzens« ( Handorakel , Übersetzung Arthur Schopenhauer, Aphorismus 181). Sollte trotz allem eine Lüge erforderlich erscheinen, dann in jedem Fall mit dem Vorsatz, nicht haltlos zu lügen. Die Klugheit spricht einerseits für maßvollere Ansprüche an die Wahrheit, andererseits aber für mildere Formen des Lügens. Zu bevorzugen wäre erstens die Modifikation der Wahrheit, ihre Glättung an problematischen Stellen, das gelegentliche Flunkern im alltäglichen Lebensvollzug, das nicht sonderlich übel genommen werden kann; zweitens die Elision der Wahrheit, ihre Auslassung an fraglichen Stellen, um ein Geheimnis zu bewahren, ohne mit der Wahrheit in Konflikt zu geraten; drittens die Negation der Wahrheit durch eine Unwahrheit, ohne damit schon gerade heraus zu lügen: Die glatte Lüge würde nicht nur den Anderen ernsthaft verletzen, sondern auch die eigene Glaubwürdigkeit nachhaltig erschüttern.
Denn was auf dem Spiel steht, wenn das Selbst Unwahrheit und Lüge nicht begrenzt, ist der Wert der Glaubwürdigkeit . Andere nach Belieben zu belügen, würde dazu führen, von ihnen ebenso nach Belieben belogen zu werden, und das könnte jede bejahenswerte und verlässliche Beziehung zu Anderen unterlaufen. Ohne eigene Glaubwürdigkeit ist auch auf die Glaubwürdigkeit Anderer und auf Beziehungen zu ihnen nicht zu hoffen, es droht der soziale Tod. Die eigeneGlaubwürdigkeit wird befördert von der größtmöglichen Aufrichtigkeit gegenüber Anderen , zu der vor allem in verfahrenen Situationen zurückgekehrt werden kann, um so weit wie möglich in der Wahrheit zu leben , nicht weil es moralisch geboten ist, sondern weil Beziehungen davon gefestigt werden. Auch dem Anderen ist nichts Anderes abzuverlangen, nicht absolute Wahrheit, nur größtmögliche Aufrichtigkeit. Zwischen einem Zuviel an Lüge, aber auch einem Zuviel an Wahrheit gilt es, den Weg zu finden, denn je penibler auf Wahrheit gepocht wird, desto schwerer wiegt schon die kleinste Unwahrheit. Vielleicht mangelt es demjenigen, der die Wahrheit sagt, lediglich an Kraft, seine Lügen durchzustehen, aber lebenspraktisch hängt viel davon ab, der Lüge nicht allein das Feld zu überlassen: Eine Kunst des Lügens (Simone Dietz, 2003) kommt letztlich nicht umhin, dem Lügen selbst Grenzen zu setzen, wenngleich nicht mit moralischen Geboten, sondern mit individueller Selbstgesetzgebung, die dafür sorgt, nicht in einem Meer von Lügen zu ertrinken und mangels Kontrasterfahrung die Lügen nicht mal mehr als solche zu erkennen.
In erster Linie beruht die eigene Glaubwürdigkeit jedoch auf der größtmöglichen Aufrichtigkeit gegenüber sich selbst . Jede und jeder tut gut daran, ein solches Verhältnis zu sich zu unterhalten und sich weder im Negativen noch im Positiven »etwas vorzumachen«. Die Wahrheit, die ich mir zumute, ist die Basis für zutreffende Einschätzungen meiner selbst und der Verhältnisse, in denen ich lebe: Mich selbst zu belügen, zöge empfindliche
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