Die Liebe atmen lassen
dieschwierige Wahl zu treffen, sich daran zu versuchen oder die Beziehung ohne Umschweife zu beenden, und auch seine Wahl korrespondiert mit den genannten Eckpunkten der Treue zu sich selbst. Eine moralische Verurteilung der Untreue liegt ihm wahrscheinlich nahe, lebenspraktisch aber verhält es sich so, dass Neuerungen, Entwicklungen, Reifeprozesse in einer Beziehung nicht selten von Untreue und Verrat angestoßen werden: Mühelos sprengen sie den Status quo, das strikte Beharren auf einmal getroffenen Verabredungen, und ermöglichen Konstellationen, die das gemeinsame Leben von Neuem spannend machen können (Ulrich Clement, Wenn Liebe fremdgeht , 2009). Große Herausforderungen, die bewältigt werden, stärken das Selbstbewusstsein von Menschen enorm, und so kann der Verrat im besten Fall eine schöpferische Zerstörung sein, ähnlich den Katastrophen in anderen Lebensbereichen. Anstelle einer moralischen Verurteilung wird aus dieser Sicht eine verständnisvolle Milde möglich, wie etwa Shakespeare sie zeigt, der im 41. Sonett nicht etwa seinen eigenen Verrat, sondern den des geliebten Anderen zu entschuldigen sucht, indem er dessen Schönheit rühmt, die nun mal »berannt« wird: Aus ihr folgen die »hübschen Frevel, die die Freiheit tut«. Aber durch Böses kann Gutes noch besser werden: »Und Liebe, die zerstört war, / Wird schöner als zuvor« (119. Sonett).
Zweifellos ist der Lebensgewissheit in einer Beziehung die Wahrheit förderlich, auch wenn sie unangenehm ist; Ungewissheit und Angst gehen demgegenüber mit Unwahrheit und Lüge einher, auch wenn sie nur vermutet werden. Wahrheit und Lüge aber sind erneut Zwillinge, die die Liebe gebiert und die sich auch im sonstigen Leben nicht trennen lassen: Eine Wahrheit ohne Möglichkeit der Lüge gibt es nicht, ebenso wenig Unwahrheit und Lüge ohne Möglichkeit der Wahrheit.Mit »Wahrheit« sind in aller Regel Aussagen gemeint, die sich mit wirklichen Verhältnissen decken, am Küchentisch ebenso wie in der Wissenschaft. Aber was genau ist »Wirklichkeit«? Im Zweifelsfall sind dazu umfangreiche Recherchen erforderlich, die kaum je endgültig abzuschließen sind. Am Küchentisch lässt sich der langwierige Prozess durch ein Geständnis abkürzen, um den Verdacht, der die Beziehung unterminiert, aus der Welt zu schaffen und nicht länger Aussage gegen Aussage stehen zu lassen.
Auf den Realitätsgehalt von Aussagen vertrauen zu können, ihnen nicht auf Schritt und Tritt misstrauen zu müssen, vereinfacht die Verhältnisse im zwischenmenschlichen Verkehr: Aus diesem Grund ist die Wahrheit ursprünglich wohl erfunden worden. Parallel dazu erweist sich allerdings auch die Erfindung der Unwahrheit und ihrer schärfsten Form, der Lüge, als sinnvoll fürs soziale Leben: Nicht immer kann ich Anderen sagen, was ich in Wahrheit über sie denke; nicht immer kann ich mit absoluter Aufrichtigkeit schonungslos ihre Mängel und Schwächen benennen und ihnen Beleidigungen an den Kopf werfen, die mir gerade jetzt in den Sinn kommen, da sie sich nicht sonderlich rücksichtsvoll benehmen. Aber stets die Wahrheit zu sagen, hätte nicht nur etwas Inhumanes an sich, sondern würde auch dazu führen, dass Andere mir gleichfalls ständig die Wahrheit sagen wollten. Höflichkeit, so stellt sich heraus, ist eine kultivierte Form von Zurückhaltung auch in Fragen der Wahrheit. Für den reibungslosen Umgang zwischen Menschen sind vornehmes Schweigen, Unwahrheit und Lüge unverzichtbare Gleitmittel. Die atmende Liebe selbst braucht nicht nur Wahrheit, um so wahrhaft wie möglich Liebe sein zu können, sondern auch ein Gran an Gegenteil, um nicht im Gefängnis der reinen Wahrheit, inunnachsichtigen Indizienprozessen und inquisitorischen wechselseitigen Befragungen ersticken zu müssen.
Fragen wirft keineswegs nur die Lüge, sondern auch die Wahrheit auf: Wer sagt sie, warum, gegen wen, und warum gerade jetzt? Wer will was erreichen mit der Wahrheit, um die es momentan geht, und gibt es noch andere Wahrheiten? Was ist die ganze Wahrheit? Wer kann sie kennen? Wer hält sie aus? Ist die Wahrheit immer heilsam oder kränkt sie auch und macht krank? Versöhnt sie oder stiftet sie neuen Unfrieden? Möglich ist eine grundsätzliche Verpflichtung zur Wahrheit , die aber nicht von außen auferlegt, nur vom Selbst eingegangen werden kann. Für sie spricht, dass die Verweigerung der Wahrheit auf längere Sicht nicht gut durchzuhalten ist, denn sie ist anstrengend: Jede Teilwahrheit, Unwahrheit, erst
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