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Die Liebe atmen lassen

Die Liebe atmen lassen

Titel: Die Liebe atmen lassen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Schmid
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Vorstellungen von Zeit zu Zeit wiederum mit individuellen Abweichungen , die sich summieren. Abseits natürlicher und kultureller Vorgaben hängt der Maßstab der Treue von der individuellen Festlegung ab, die ein Paar für sich selbst vornimmt, um dem eigenen Verhalten Form zu geben und der faktischen Freiheit, sich anders als verabredet zu verhalten, Grenzen zu setzen. Selbst Paare, die sich darauf verständigen, die sexuelle Treue aufzulösen (»Toleranzabkommen«), um etwa in Swinger-Clubs zu verkehren, suchen oft die seelisch-geistige Treue zu bewahren und achten sehr auf die Einhaltung ihrer Verabredung. Nach der vormodernen Treue aus Gründen der Religion, Tradition und Konvention, nach der modernen Befreiung hiervon, geht es in andersmoderner Zeit um eine frei gewählte Formgebung: Treue macht auf veränderte Weise erneut Sinn, um Beziehungen auch dann noch zu ermöglichen, wenn sie aufgrund mannigfacher Befreiung flüchtig werden. Treu zu sein heißt dann nicht mehr, eine moralische Norm zu befolgen, sondern sich an selbst getroffene Abmachungen zu halten, aus der Einsicht heraus, dass Zuverlässigkeit und Beständigkeit wesentliche Elemente einer Beziehung sind, jedenfalls dann, wenn sie von längerer Dauer sein soll. Zur Grundlage der Verbindlichkeit wird der Grundsatz bürgerlichen Rechts, »Verträge sind einzuhalten« ( pacta sunt servanda ), um auf diese Weise wieder starke Zusammenhänge herzustellen und neuen Sinn zu stiften. Gleichsam beiläufig installiert die individuelle Formgebung der Freiheit überholt geglaubte Tugenden neu, »Tugend« nicht mehr als Moralgebot verstanden, sondern wieder als herausragende Fähigkeit ( arete im Griechischen),die gepflegt wird, als bestmögliches Verhalten, mit dem ein Einzelner zu verwirklichen sucht, was er für schön und bejahenswert hält.
    Die Ethik der Liebe, die aus dem gemeinsamen Schönen und Bejahenswerten ihre Werte gewinnt, kann dennoch nicht verhindern, dass es außer Treue auch Verrat gibt, dass auch dies Zwillinge sind, die die Liebe gebiert. So wie Treue den Zusammenhang zwischen zweien bewahren soll, kann Verrat ihn zerbrechen, jedenfalls aus der Sicht des Verratenen, mit einer nachfolgenden Erfahrung von Sinnlosigkeit, die so tief reichen kann, wie der Zusammenhang für stark gehalten worden ist. Muss die Treue nicht uneingeschränkt gelten? Ja, aber eine so hohe Auffassung von Treue wird nicht selten ausgerechnet von dem unterlaufen, der sie am entschiedensten vertritt (Wolfgang Schmidbauer, Die heimliche Liebe , 1999). Die Frage von Treue und Verrat ist die nach dem richtigen Weg zwischen Skylla und Charybdis . Absolute Treue ist der Fels, an dem nicht nur das Schiff des Odysseus zu zerschellen droht. Der völlige Verzicht auf Treue hingegen ist der Sog, der letztlich jede Verlässlichkeit von Beziehungen verschlingt. Zwar lassen sich die Grenzen zum Verrat gemeinsam festlegen, aber nur der Einzelne selbst kann sie auch einhalten – oder überschreiten. Mit seiner individuellen Ethik hat er darüber zu entscheiden, wie weit er geht, und muss sich in erster Linie vor sich selbst rechtfertigen, wenn Andere von den Folgen betroffen sind, denn Leidtragende sind letzten Endes nicht nur Andere, sondern irgendwann auch das eigene Selbst, auf das die Folgen in irgendeiner Weise zurückwirken. Spätestens die eigene Erfahrung kann dann zur Einsicht führen, dass Grenzen sinnvoll sind, dass ein Verrat die Ausnahme bleiben muss und nicht zur Regel werden kann.
    Zu einer wirksamen Grenzziehung ist die individuelle Klugheit in der Lage, deren Regeln aus der Erfahrung und Besinnung stammen und nur vom Ich selbst aufgestellt werden können. Die Klugheit hält mich dazu an, mich für alle Zusammenhänge zu interessieren, die mich betreffen könnten, und mir die Fragen zu stellen, die nur ich allein beantworten kann: Brauche ich wirklich, aus welchen Gründen auch immer, eine Zusatzbeziehung, die der Andere als Verrat empfinden könnte? Verfüge ich überhaupt über die Ressourcen dazu, physisch, psychisch und auch materiell? Halte ich die Konsequenzen aus, die zuallererst mich selbst betreffen, die Zerteilung der eigenen Kräfte, die mögliche Bewusstseinsspaltung, die Spaltung in der Beziehung zum Anderen, die nicht erst bei der Entdeckung der Zusatzbeziehung droht? Wie weit darf eine Verletzung Anderer äußerstenfalls gehen? Was würde ich selbst tun, wenn ich vom gleichen Verrat betroffen wäre? Was sollte ich tun oder lassen, welche Fragen mir und

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