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Die Liebe der anderen

Die Liebe der anderen

Titel: Die Liebe der anderen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frederique Deghelt
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Koketterie, das Flirten der Anfangszeit. Ich versuche mich seinem Verhalten anzupassen, aber ich weiß nicht, wie die Kunst der Verführung in einem zwölf Jahre alten Paar aussieht. Das ist Gewohnheit, alter Whisky. Ich könnte ihn verführen, ihn provozieren, aber ich habe Angst, dass er mich in meiner Zeitverschiebung ertappt. Ich bin mehr Zuschauerin als Akteurin, und manchmal entdecke ich ein Staunen in seinem Blick. Er merkt nicht, dass ich ihn ständig beobachte, auch wenn er sich alleine wähnt. Ich betrachte seine Hände, seinen Körper, seine Art, sich zu bewegen, den Kopf zu neigen oder zu sprechen. Manchmal tarne ich diese Blicke, indem ich lache oder mit den Kindern spiele.
    Mitten in die Stille hinein platzt es plötzlich aus Lola heraus: »Meine Mama ist weg. Aber dafür ist eine andere Mama gekommen.«
    Pablo wirft mir einen Blick zu. »Kinder haben manchmal seltsame Einfälle, was?« Ich nicke mit einem Kloß im Hals. »Weißt du noch, was du mir bei Youris Geburt gesagt hast?« Natürlich erinnere ich mich nicht, doch er erzählt weiter.»Du sagtest, Kinder sind Zauberkünstler, sie sagen Dinge, die wir nicht verstehen können. Du solltest aufschreiben, was sie erzählen, vor allem jetzt, wo du Zeit hast. Sonst haben wir in ein paar Jahren alles vergessen. Eines Tages wird es eine bewegende Erfahrung für sie sein, diese Chroniken aus ihrer Kindheit zu lesen. Frag doch mal meine Mutter, ich glaube, sie hat auch eine Art Tagebuch geführt, als ich klein war.«
    Im Stillen denke ich, es ist wirklich schade, dass ich nicht viel früher damit angefangen habe, denn das würde mir jetzt sehr helfen. Als könnte er meine Gedanken lesen, redet Pablo weiter.
    »Eigentlich dachte ich, du hättest das ohnehin vor. Vor einem Jahr hast du mal erzählt, du hättest dir Hefte gekauft.«
    »Habe ich auch. Sie liegen in meinem Schreibtisch.« Was ausnahmsweise mal nicht gelogen ist. Ich glaube, dort habe ich sie gesehen. Aber sie sind leer! Die Landschaft zieht an uns vorüber, und die Sonne sinkt. Bald werde ich einschlafen wie die Kinder, eingelullt vom Brummen des Motors.

    »Finden Sie sich in Ihrer eigenen Wohnung nicht mehr zurecht? Erleben Sie tagsüber Verwirrungszustände? Ist Ihnen manchmal schwindelig?«
    »Wie gesagt, Herr Doktor. Es geht mir prima. Nur dass … ein ganzer Teil meines Lebens verschwunden ist. Für mich ist es so, als wäre ich Pablo erst vor drei Tagen begegnet. In Wirklichkeit ist es aber zwölf Jahre her, und ich habe drei Kinder mit ihm. Abgesehen davon ist alles in Ordnung. Ich lebe in einer Wohnung, in der man sich leicht orientieren kann, ich habe alle Zimmer erkundet, kann mir sehr gut merken, wie ich von einem Punkt zum anderen gelange, das ist nicht das Problem. Aber es ist anstrengend, alles neu zu erlernen, vor allem was die Kinder betrifft, ich muss den Alltag mit ihnen erfinden.«
    Er senkt den Blick und kritzelt ein paar Notizen auf einen Block. »Ja, verstehe.« Offensichtlich nicht. Mein Fall langweilt ihn. »Sie sollten mit jemandem reden, der mehr Erfahrung in solchen Dingen hat. Was Ihnen widerfährt … ist … sehr komplex. Es gibt keinen Unfall, keinen offenkundigen Schock, keinen Sturz … Es wäre sicher das Beste, wenn Sie sich zu weiteren Untersuchungen an die Psychiatrie des Hôpital Sainte-Anne wendeten. Ich werde ihnen eine Überweisung schreiben.«
    Ich lasse mir nichts anmerken, aber ich rase vor Wut. Er schickt mich zu den Verrückten. Meint er vielleicht, ich hätte auch den Namen dieser Klinik vergessen? Für alle Fälle hat er mich untersucht. Alles normal, sogar der Blutdruck. Als ich seine Praxis verlasse, bin ich bitter enttäuscht und versuche mich zusammenzureißen. Was konnte ich von einem Allgemeinmediziner schon anderes erwarten? Dass er sagt: »Aber ja, das kommt häufig vor. Eine Sekunde, ich verschreibe Ihnen was gegen diese lästigen ›Zwölf-verlorenen-Jahre‹. In ein paar Tagen haben Sie das ohne Nachwirkungen überstanden …«

    Dann kam der Wochenanfang und mit ihm die Schule, die Hausaufgaben, Einkaufslisten. Ich lache mit den Kindern, aber es fällt mir schwer, dem Rhythmus zu folgen, den sie mir vorgeben. Mir ist, als würde ich unentwegt einem Zeitplan hinterherrennen. Es erfüllt mich mit Hochachtung zu wissen, dass ich diesen Alltag bis vor kurzem bewältigt habe und nebenbei noch berufstätig war. Wenn auch nur mit einer Dreiviertelstelle. Denn beim Blick auf meine Gehaltsabrechnungen habe ich festgestellt, dass meine

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