Die Liebe der anderen
Gleichgewicht gebracht.
»Ich denke, dass sollten Sie mir sagen.«
Er siezt mich weiter, mustert mich wie eine Fremde, mit einer Feindseligkeit, die den Verliebten von gestern Abend überdeckt. Ich antworte nicht.
»Na gut«, sagt er wütend. »Wenn ich zuerst reden soll, bitte schön. Ich weiß nicht, wo Marie ist, aber Sie«, sagt er und setzt mir anklagend den Finger auf die Brust, »Sie sind nicht meine Frau! Wir waren noch nie in diesem Haus. Für die Woche vor unserer Hochzeit hat man uns im letzten Moment ein anderes Haus als dieses hier angeboten, auf Mauritius, wo wir dann auch waren … Sie sind eine sehr gute Schauspielerin, und Sie haben große Ähnlichkeit mit Marie. Aber ich beobachte Sie seit einigen Tagen, und Sie sind anders. Es ist noch merkwürdiger. Sie ähneln der Marie von früher, als ich ihr vor zwölf Jahren zum ersten Mal begegnete. Sie behandeln mich so, wie sie es tat, als wir uns kennenlernten. Auch mit den Kindern habe ich Sie entlarvt. Und noch ein paar andere Sachen kommen mir sehr seltsam vor: Sie spielen nicht mehr Klavier. Marie verbrachte keinen Tag, ohne zu üben. Und Ihr Handy? Ich meine Maries Handy, Sie benutzen es nie! Und erklären Sie mir bitte mal, warum Marie ihre PIN vergessen haben sollte, die sie jeden Tag braucht?«
Das mit dem Handy stimmt. Ungefähr eine Woche nach meinem »Erwachen« – so nenne ich meine Rückkehr ins Jahr 2000 – fragte mich Pablo, warum ich nicht mehr an mein Handy ginge, warum ich ständig die Mailbox an hätte. Anfangs erfand ich eine Ausrede: Ich hab es irgendwo inder Wohnung verbummelt. Dann habe ich dieses für mich völlig neue Gerät allerdings in einem kleinen Seitenfach meiner Handtasche gefunden. Am PIN-Code blieb ich wieder hängen und sah mich gezwungen, Pablo in beiläufigem Ton zu gestehen, dass ich den Code meines Handys vergessen hatte. Er war überrascht und fragte: »War es denn nicht unser Hochzeitstag?«
In der Not erfand ich also eine Geschichte von einer neuen PIN, bis ich in einem Schrank auf die Bekanntmachung unserer Vermählung stieß, und da tauchte auch schon das nächste Problem auf: Die Zahl war nicht die richtige. Meine Lüge war die Wahrheit, ich hatte den Code tatsächlich geändert. Aus lauter Verzweiflung und weil ich nur noch einen Versuch hatte, tippte ich das Datum jenes 12. Mai ein, an dem wir uns kennengelernt hatten, und zu meiner großen Verwunderung begrüßte mich das Gerät mit den Worten:
»Hi, Marie, I am your secret line.«
Warum der Tag unserer ersten Begegnung und nicht mehr unser Hochzeitstag? Der Tag, an dem ich auch mein Gedächtnis verlor? Was ist an diesem Tag geschehen?
»All diese merkwürdigen Zufälle haben mich zu der einen Gewissheit geführt: Sie kennen das Leben meiner Frau sehr gut, vielleicht sind Sie ihr vor langer Zeit einmal begegnet … Doch woher diese außergewöhnliche Ähnlichkeit mit ihr? Ich weiß es nicht, aber ich nehme an, Sie werden es mir gleich erklären.«
Und nun lächelt er wieder, sogar ziemlich freundlich. Er scheint zufrieden mit sich. Ich springe ins kalte Wasser.
»Ich bin deine Frau, Pablo … Ich bin immer noch dieselbe, nur mit einem kleinen Unterschied: Ich bin eine Frau ohne Gedächtnis. Mein Gedächtnis endet an dem Abend unseres Kennenlernens. Was danach passierte, weiß ich nicht mehr. Ich erinnere mich an gar nichts.«
Und ich betone die Wörter »erinnere« und »gar nichts«, damit er mich versteht. Pablo bricht in Gelächter aus.
»Ha, das gibt es doch gar nicht! Marie, du bist ja noch verrückter als ich!«
Er zieht mich zu sich und umarmt mich.
»Was mich am meisten wunderte, war deine unerschütterliche Miene, als ich von dem Haus auf Mauritius erzählte. Nicht das geringste Erstaunen, kein Zucken der Augenbraue, kein Lächeln. Ich hätte gedacht, du wärst außer dir vor Wut und Empörung, aber nichts! Und jetzt die Sache mit dem Gedächtnisverlust, also wirklich … Gratuliere! Genial! Was für eine Schauspielerin! Was für ein Improvisationstalent! Unter uns: Die Idee mit dem Blackout ist ein Superaufhänger für ein Drehbuch! Und ich wollte dich damit beeindrucken, dir etwas vorzuspielen!«
Ich bin am Ende, mein Vertrauen ist dahin. Keine Ahnung, ob er spielt oder ob er es ehrlich meint. Ich weiß nicht, wie ich reagieren soll. Ein scheues Lächeln huscht über meine Lippen, als ich begreife, dass ich vielleicht gerade die einzige Chance vertue, Pablo meine Geschichte anzuvertrauen oder ihn wenigstens an dem Leben, das ich
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