Die Liebe der anderen
beschreiben?«
»Nein, natürlich nicht. Aber angenommen, ich hätte vor lauter Verbitterung nicht mehr dem Bild der Frau entsprochen, die ich sein wollte, und hätte das nicht ertragen?«
»Kennen Sie einen Menschen, der sich nicht verändert?«, fragt Raphaël. »Was jeder einzelne von uns wird, hängt von vielen Faktoren ab, die teils ferner liegende Gründe haben, als wir meinen. Wir wissen nur wenig darüber, was unsere Begegnungen, unsere Entscheidungen und unsere Ziele vorherbestimmt. Und wir vergessen den Ursprung unserer Wünsche.«
»Ich habe Angst, Raphaël. Ich habe Angst, irgendetwasüber mich zu entdecken, ich habe sogar mehr Angst vor mir als vor den anderen. Aber ich habe keine andere Wahl. Mir bleibt nichts anderes übrig, denn ich weiß nichts. Kein Mensch muss zwölf Jahre seines Lebens aufgeben, nur weil er sich nicht mit seiner Entwicklung oder der Entwicklung der Menschen in seiner Umgebung auseinandersetzen möchte. Ich nehme an, ich habe mich für den bequemsten Weg entschieden … Das ist ein eher seltener Fall, oder?«
»Es ist der Weg, für den Sie sich entschieden haben, Marie. Und wahrscheinlich ist es der Weg, der Ihnen am meisten zusagte. Eines Tages werden Sie vielleicht herausfinden, warum sie diese Erfahrung machen mussten. Aber nichts ist unveränderlich.«
Zwischen zwei Tränen frage ich ihn aus. Gibt es noch andere vergleichbare Fälle? Er versichert mir, dass es nicht geläufig ist, es aber durchaus weitere dieser Art gibt. Ich insistiere. Haben die anderen ihr Gedächtnis wiedergefunden? Waren es bei den anderen auch so viele vergessene Jahre wie bei mir?
Er lächelt mich seufzend an. Ob Marie wohl zur Kenntnis nehmen könnte, dass wir nicht über eine Kinderkrankheit nach Schema F reden, mit einer Inkubationszeit von zehn Tagen vor dem Auftreten der Bläschen?
Ich schaffe es, ihm ein tränenüberströmtes Lächeln zu schenken. »Es würde mich einfach beruhigen zu wissen, dass ich nicht allein damit bin. Dass andere das auch irgendwie hinter sich haben … Ich habe Angst durchzudrehen, Raphaël.«
»Vielleicht haben Sie sich ja für eine Lösung entschieden, die Ihnen das Durchdrehen erspart«, sagt Raphaël. »Sie kennen doch bestimmt die Geschichte von dem Verrückten, der auf der Mauer seiner Irrenanstalt sitzt und einen Passanten völlig selbstgewiss fragt: ›Seid ihr viele da drinnen?‹«
Ich sehe mich in einem Café mit dem Namen
L’Imprévu
, »Zwischenfall«. Das Interieur ist marokkanisch angehaucht. In einem Raum ist ein orientalisches Festzelt aufgebaut, mit Kissen und niedrigen Tischen darin. Der Wirt ist freundlich, fast jovial. Ich bin spontan reingegangen.
»Sie sehen aus, als wäre heute nicht Ihr Tag. Pfefferminztee wie immer? Vielleicht eine Kleinigkeit zum Naschen dazu?«
»Einen Pfefferminztee, bitte … Und einen Ti Punch für das Gedächtnis. Nein, nein, das war nur ein Witz. Der Tee reicht. Der wird mich auch ohne Alkohol munter machen.«
Die ersten Klavierakkorde erfüllen das leere Café. Keith Jarrett. Die profunde Fingerfertigkeit und die Authentizität seines Spiels erkenne ich sofort. Der Wirt stellt den Tee vor mir ab.
»Das ist seine letzte Platte«, bemerkt er.
Ich meine, das Album schon zu kennen, aber vor lauter Zweifeln an meinen Erinnerungen wage ich es nicht, ihn zu korrigieren. Ich bin zu glücklich, zwei Punkte meines Lebens verbinden zu können: zwischen der Musik, die ich früher hörte, und der, die ich hier vernehme. Und ich frage mich, warum ich seit meinem Erwachen so wenig Musik gehört habe. Noch schlimmer, ich habe mir meine Plattensammlung nicht einmal angeschaut. Ich kann mich des traurigen Gedankens nicht erwehren, dass man mit dem Älterwerden das Musikhören aufgibt, das einem jungen Menschen so unentbehrlich ist. Das war mir schon aufgefallen, bevor ich die Erfahrung selber machte!
Bis jetzt hat mich das Alter, das mir die verpassten Jahre bescheren, nicht bedrückt. Ich bin etwas schmaler als 1988, und ich habe den Eindruck, mein Gesicht hat reifere Züge angenommen. Die Fältchen an den Augenwinkeln erzählen von Fröhlichkeit und schönen Momenten, doch es sind mitnichten diese körperlichen Veränderungen, die mich zum Weinen bringen, das schafft allein ein einziges Mal: einwinziger Dehnungsstreifen links am Bauch, der in einer meiner Schwangerschaften entstanden sein muss. Möglicherweise werde ich mich nie mehr daran erinnern, meine Kinder in mir getragen und geboren zu haben. Und dieses Bedauern
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