Die Liebe der anderen
dafür danken soll, dass er sie mir geschickt hat. Sie und ihre Kraft. Bevor sie geht, taucht sie noch einmal ihren strahlend blauen Blick in den meinen. »Keine Angst, du wirst es herausfinden. Und übrigens, da es dir zweifellos entfallen ist, möchte ich dich dran erinnern, dass du mir noch mindestens vierzehn Magnumflaschen Champagner schuldest!«
Juliettes Besuch hat mir gutgetan, auch wenn ich nun nicht mehr Erinnerungen habe als vorher. Was für ein komischesGefühl, eine Unbekannte als beste Freundin zu haben! Doch ihr habe ich es wohl zu verdanken, dass ich ein wichtiges Puzzleteil ins Bild setzen konnte. Was ist das für eine Liebe, wenn man unbewusst beschließt, noch einmal von vorn anzufangen? Was war der wahre Grund meiner Sehnsucht? War unser Leben nicht mehr so, wie ich es mir vorgestellt hatte? War er nicht der Mann, den ich in ihm zu sehen glaubte? Oder war ich nicht die Frau, die ich an seiner Seite sein wollte? Und was ist mit Pablos Erinnerungen? Wie soll ich die Sache ansprechen, nachdem ich nun zwei Wochen lang geschwiegen habe?
»Hättest du Lust, das Haus von Onkel Roberto mal wiederzusehen?«, hat er mich fröhlich gefragt.
Ich stelle mich dumm: »Beschreib mir das Wochenende, und ich sage dir ja oder nein.« Zu spät. Er hat schon die Flugtickets besorgt, und wir eilen zum Flughafen. Er kann mir das Wochenende nicht beschreiben, sagt er, dieses Drehbuch würden wir erst noch verfassen. Bei unserer Ankunft bin ich erschöpft und nehme das Haus in der Dunkelheit kaum zur Kenntnis. Ich schmiege mich in Pablos Arme, und vor dem Einschlafen höre ich ihn flüstern, wie glücklich er ist, wieder mit mir hier zu sein.
Ich erwache aus einem tiefen Schlaf, der Tag hat längst begonnen und diese Nacht mir bestätigt, dass ich unter keinerlei Schlafstörungen mehr leide. Ich bin allein in einem kleinen Zimmer, das fast völlig von einem weißen Bett ausgefüllt wird. Nach einem kurzen Blick aus dem Fenster, das auf ein sehr blaues Meer hinausgeht, beschließe ich, aufzustehen. Von der Terrasse dringen Frühstücksgeräusche herauf, und vor allem lockt mich der Kaffeeduft.
Unter der Dusche geht mir durch den Kopf, dass dieses Haus nichts in mir auslöst. Pablo sprudelte schon am Flughafen nur so über von dieser oder jener Erinnerung aus der Woche vor unserer Hochzeit. Und ich bin überrascht, wieweh es mir tut, keine einzige Erinnerung an diese Zeit zu haben, die sehr unbeschwert gewesen sein muss. Heute Morgen bedauere ich, dass sich mein Hirn, ohne zu fragen, einfach ausgeklinkt hat.
Ich betrachte mich im Spiegel: Hat mein Blackout Spuren hinterlassen? – Seit zwei Wochen kämpfe ich mit meinen Erinnerungen, meinen Gedächtnislücken und meinem zweiten Leben als Mutter. Ich hatte keinen Moment Ruhe, keinen Tag einfach nur für Pablo und mich, höchstens mal ein Stündchen nach dem Abendessen. Ich hatte nie die Gelegenheit, ihn in einem anderen Kontext zu erleben, außerhalb der Familie, die wir gegründet haben und die ich gerade entdecke. Vielleicht liegt die Lösung hier, in diesem Haus, das in unserer Geschichte offenbar eine wichtige Rolle spielte. Mein knurrender Magen unterbricht meine Grübeleien. Als ich die Steintreppe herunterkomme, hat Pablo gerade den Tisch auf der blumengeschmückten Terrasse fertiggedeckt. Das Haus wurde auf einem Felsvorsprung errichtet und hat kaum ein Fenster, das nicht aufs Meer hinausgeht.
Das ganze Frühstück über erzählt mir Pablo von unseren gemeinsamen Erlebnissen in diesem Haus. Ich nicke zwischen zwei Bissen, inzwischen Meisterin in der Kunst, Erinnerungen zu wecken, die ich selbst nicht habe, ich schrecke nicht mehr davor zurück, diesen oder jenen Aspekt noch zu übertrumpfen. Im Grunde ist es ziemlich einfach, das Leben einer anderen zu führen. Ich bin unverdächtig, weil das menschliche Gedächtnis eben seine Tücken hat, das weiß jeder. Was riskiere ich schon? Allenfalls ein »Aber nein, Marie, denk doch mal nach, an dem Tag haben wir dieses oder jenes gemacht. Du hattest das grüne Kleid an, das ich so gern mag, oder das schreckliche blaue.« Mitten in diesen Gedanken nehme ich das Schweigen um mich herum wahr.
Und plötzlich die Frage: »Wer sind Sie und wo ist meine Frau?«
Vor Schreck lasse ich mein Brot fallen. Habe ich richtig gehört? Pablo redet mit mir, und in einem Ton, den ich an ihm nicht kenne.
»Pablo, was ist los?«
Ich stelle mich nicht mehr dumm, seine Frage und mehr noch sein Blick haben mich wirklich aus dem
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