Die Liebe der anderen
vergessen, sogar seinen eigenen Namen. Wielange hat er so gelebt, ohne etwas über sich zu wissen? Sechs, sieben Monate? Ich weiß es nicht mehr. Am Ende habe ich vielleicht noch Glück gehabt, dass ich nur einen Teil meines Lebens ausgelöscht habe.
Die Großmutter erscheint in der Tür.
»Kommt, Youri, mein Großer, Lola, meine Kleine. Ich habe euch ganz besondere Kekse gebacken. Zoé sitzt schon in ihrem Stuhl.«
Die beiden entfernen sich an der Hand ihrer Babuschka. In der Küche hilft Pablo ihnen, sich um den Kaffeetisch zu versammeln. Ich habe manchmal Schwierigkeiten, mich in diesem großen unbekannten Haus zu orientieren, und ich gebe mir große Mühe, in diesen Momenten unbeobachtet zu sein. Zum Beispiel brauchte ich ewig lange, um die Toilette zu finden, weil die Tür hinter einer Trompe-l’œil-Malerei versteckt war. Hat es denn niemals ein Ende, dieses hilflose Abtasten im Alltag, das mich zurückwirft in die ersten Tage meiner Amnesie, begleitet von Herzklopfen, Anspannung und der Angst, »entdeckt« zu werden? Seit ich mit Henri gesprochen habe, fühle ich mich zum Glück nicht mehr so allein mit meiner Geschichte. Ich überlege, was ich ihn morgen bei unserem gemeinsamen Essen fragen werde.
»Marie, möchten Sie mitkommen zum Nachbarhof, um den Käse abzuholen, den ich dort bestellt habe?« Carlos, Pablos Vater, lächelt mich an. »Ich mag nicht alleine gehen, und das Kuchenessen mit den Kindern können sie auch gut zu zweit erledigen.«
»Natürlich, ich begleite Sie. Bis später, alle zusammen.« Ich setze eine erfreute Miene auf, obwohl ich die Einladung sehr aufdringlich finde. Dadurch, dass ich die Leute nicht kenne, durchschaue ich ihre Absichten umso deutlicher.
Carlos holt seinen Stock und seinen Hut. Selbst in einer urfranzösischen Umgebung wie dieser ist er ganz Argentinier.Fast nobel, ein schöner
hidalgo
bis in die Fingerspitzen. Anfangs laufen wir schweigend nebeneinanderher. Ich würde ihn gern etwas über das Haus fragen, über Pablo als Kind, über das Leben mit seiner Frau. Aber das wage ich natürlich nicht. Ich darf nicht vergessen, dass wir uns seit zwölf Jahren kennen!
»Was möchten Sie denn wissen, Marie?«
»Warum fragen Sie mich das?«
»Ich spüre, dass Sie voller Fragen sind. Sie sind anders als sonst. Und sicher bin ich nicht der Einzige, den das … sagen wir, beschäftigt. Pablo bestimmt auch. Ich kenne meinen Sohn … fast so gut wie seine Mutter. Und vorhin habe ich ihn beobachtet: Er hat Sie angesehen, und ich habe gespürt, dass Sie ihm Rätsel aufgeben. Also habe auch ich angefangen, Sie zu beobachten, und mir ist aufgefallen, dass Sie in unserem Haus wie verloren wirken. Sogar nach der Toilette mussten Sie erst suchen. Sie sagen ja gar nichts … Und ich erinnere mich sehr gut an das letzte Mal, dass Sie hier waren. Sie waren zerstreut, abwesend, fast aggressiv und sehr distanziert gegenüber Pablo. Wir haben uns richtig Sorgen gemacht. Es hatte den Anschein, als würden sich auch die Kinder zurückziehen …«
»Von mir?«
»Nein … Nicht nur von Ihnen, von Ihnen und Pablo als Paar. Als machte etwas in Ihrer Beziehung den beiden Angst. Olga und ich hätten Sie deshalb schon fast angerufen oder Ihnen geschrieben. Aber am Ende haben wir gedacht, ein Paar muss diese persönlichen Dinge unter sich regeln, ohne dass die Eltern sich einmischen. Daher haben wir uns nur angeboten, die Kleine zu nehmen, um Sie beide ein bisschen zu entlasten. Vielleicht war es auch nur Erschöpfung. In letzter Zeit haben Sie viel gearbeitet, Sie bei
TV Locale
und Pablo an seinem Film … Marie, wir waren so froh, als Sie ihren anstrengenden Job an den Nagel gehängt haben. Ich wollte mich mit Pablo zum Mittagessen treffen.Ich dachte, in einem Gespräch unter Männern hätte man sich das eine oder andere besser sagen können. Vielleicht hätte ich es dann verstanden. Olga war dagegen. Ich versuchte es trotzdem. Aber Pablo hatte keine Zeit, mit mir essen zu gehen. Er schob vor, dass er Stress und Sorgen wegen seines neuen Films habe. Doch ich war sicher, da gab es noch etwas anderes. Wie auch immer. Heute habe ich das Gefühl, es geht Ihnen besser. Deshalb rede ich mit Ihnen darüber. Und ich denke, Olga hatte wieder einmal recht, manchmal muss man den Dingen ihren Lauf lassen …«
»Carlos, ich … Darf ich Sie etwas sehr Persönliches fragen?«
»Nur zu, Marie.«
»Wie haben Sie es geschafft, so lange mit Olga zusammenzuleben? Und dass Ihr gemeinsames Leben so … so
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