Die Liebe der anderen
denn sonst würde einer leiden.
Ich habe Probleme mit dieser Frau, die ich vor gar nicht allzu langer Zeit war. Wenn wir beide unsere Freiheit auslebten, ohne den anderen einzuengen, was hat dann diese verbitterte Frau hier zu suchen, mit ihrer Eifersuchtsszene, die mir ganz und gar nicht gestellt vorkam? Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr komme ich zu dem Schluss, dass die leidende Marie, die ich in diesem Video auf der Bühne sah, nicht das geringste schauspielerische Talent hat. Sie hat sich nur des Rahmens bedient, der sich für ihren Tobsuchtsanfall anbot.
Instinktiv greife ich zu den Fotoalben und sehe sie mir noch einmal an. In jedem Bild suche ich nach irgendwelchen Anhaltspunkten. Einige Gesichter sind mir nach wie vor unbekannt. Mir wird klar, dass ich nicht einmal weiß, ob Pablo noch andere Geschwister hat als diesen seltsamen Kerl, dem ich bei der Premierenfeier begegnet bin. Auch der schwirrt mir hin und wieder durch den Kopf. Er scheint in unserer Geschichte mehr als nur ein Schwager gewesen zu sein. Eher ein böser Geist, ein Hiobsbote.
Ich kann nicht alles zu Papier bringen, was mich bewegt. Am schwersten fällt es mir, den Ansturm der Ideen zu beschreiben, die mir in dieser Situation, die ich seit einigen Wochen erlebe, durch den Kopf schießen. Sicher, ein wichtiger Teil meiner Vergangenheit fehlt mir, aber ich wüsste auch gar nicht, wohin damit, denn meine Gegenwart nimmt bereits den ganzen Raum ein!
Bis die Kinder schlafen gehen, habe ich keine Zeit mehr zu grübeln. Youri kommt zu mir ins Bett, um zu kuscheln, und fragt: »Wie ist das, wenn man verliebt ist?«
»Also … Man hat Bauchschmerzen und möchte die ganzeZeit kichern. Man redet eine Menge Unsinn, aber zu demjenigen, in den man verliebt ist, sagt man gar nichts. Man wird höchstens ziemlich rot im Gesicht, wenn er einen anspricht. Man hat dolles Herzklopfen, als würde einem das Herz in der Brust explodieren.«
Youri sieht mich erschrocken an. »Genau so ist es! … Mama, ich bin in Lucie verliebt, sie hat die schönsten Haare auf der Welt. Sag mal, kannst du mir ein bisschen Geld geben? Ich muss ihr doch einen Ring schenken, sonst darf ich sie niemals küssen.«
Ich bin perplex. Wie in jedem Gespräch mit diesen Kindern, die allem Anschein nach die meinen sind, lausche ich ihren Belangen mit der amüsierten Neugier einer Fremden, doch in Wirklichkeit ist mein Interesse nicht unbeschwert. Ich empfinde tief in meinem Innern eine fast schmerzvolle Verbundenheit. Wenn ich mich durch einen Zauberspruch in die Vergangenheit zurückversetzen könnte, würde ich es nicht tun, und ich weiß, dass ich den Wunsch zu bleiben ihnen verdanke.
Ich mache mich daran, den Computer zu durchsuchen. Ich überprüfe die Dokumente, an denen ich in den letzten zwölf Jahren für
TV Locale et Compagnie
gearbeitet habe. Ich habe Sendeformate entworfen, Unternehmen den Kontakt zur audiovisuellen Welt ermöglicht … Wie es scheint, auf immer höherem Niveau. Das sehe ich an den Adressaten meiner letzten Briefe und an den Aufträgen, die ich anfangs persönlich erledigte und später delegierte – zunächst an vier Mitarbeiter, später waren es sieben und am Ende zwanzig. Die Karriere »der anderen«. Ich bin müde.
Ich stoße auf ein paar Symbole, die ich nicht kenne. Eines macht mich besonders neugierig: Es ist eine kleine Hand auf einem Globus, darunter steht »Internetverbindung«. Ich klicke den Button an. »Die Verbindung konnte nicht hergestellt werden«. Ich mache Schluss für heute. Es ist elf Uhr, Pablo ist immer noch nicht da.
Ich schalte den Fernseher ein, zum ersten Mal seit meinem Erwachen. Einmal habe ich mit Pablo die Nachrichten angesehen, mehr nicht. Ich lande bei einer langweiligen pseudowissenschaftlichen Talkrunde, doch gerade als ich ausschalten will, um ins Bett zu gehen, kündigt der Moderator eine Reportage an:
»Machen Sie nun Bekanntschaft mit Henri. Vielleicht haben Sie sein Gesicht vor ein paar Wochen in den Zeitungen gesehen. Es ist das Einzige, was Henri zur Verfügung steht, um etwas über seine Identität zu erfahren. Es kommt sehr selten vor, dass ein Mensch sein Gedächtnis verliert, ohne dass dies auf einen Unfall oder ein traumatisches Erlebnis zurückzuführen wäre. Henri fand sich eines Tages an einem öffentlichen Ort wieder, ohne jede Erinnerung, ohne Papiere, ohne Adresse. Einige Monate lang wusste er nicht, wer er war. Dank verschiedener Zeitungen, die sein Foto veröffentlichten, gelang es
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