Die Liebe der anderen
Ich versuche mein Erstaunen und meine Faszination zu verbergen – ich ahne, welche Möglichkeiten sich mir dadurch eröffnen.
»Da fällt mir etwas ein. Wie haben Sie, nachdem Sie das Gedächtnis verloren hatten, von diesen Dingen erfahren? Wie haben Sie gelernt, sie zu benutzen?«
»Es wird Sie überraschen, aber ich weiß nicht, wie ich es gelernt habe. Ich wusste ganz genau, was das Internet ist, als ich eines Tages in einem Reisebüro vor einem Computer stand. Ich habe der Angestellten geholfen, einen Flug nach Paris für mich zu buchen. Mir wurde plötzlich klar, dass ich mich mit Computern bestens auskannte. In dem Reisebüro funktionierte nichts mehr, und ich habe alles wieder zum Laufen gebracht. Danach habe ich mit dem Computer eines befreundeten Arztes weitergemacht, und durch seine Hilfe habe ich meine EDV-Kenntnisse auf den neusten Stand gebracht.«
Bestimmt habe ich auch so einen elektronischen Briefkasten. Vielleicht ist er sogar voller Nachrichten, die seit fünf Wochen auf mich warten.
»Ich springe von einem Thema zum anderen, aber bitte sagen Sie mir, wie Sie die Momente erlebten, in denen Sie wieder bei klarem Verstand waren.«
»Ich war wie besessen. Ich wollte unbedingt bestimmte Viertel von Paris aufsuchen, obwohl ich in Nizza lebte, wo ich mich auch zum Zeitpunkt meines Erwachens aufhielt … Das war übrigens am Flughafen, ich hätte wer weiß woher kommen können.«
»Und waren Ihre Flashbacks mit konkreten Erinnerungen verknüpft?«
»Nein, sie waren eher an Orte gebunden. Und, wie ich später herausfand, an bestimmte Phasen meines Lebens. Während meines Studiums habe ich in Paris gewohnt. Ich kannte aber auch Tours, wo ich als Kind mit meinen Eltern gelebt habe.«
»Was war das für ein Gefühl, nicht einmal mehr den eigenen Namen zu kennen?«
Er lacht. »Eigentlich ein ganz gutes … Natürlich war es eine komische Situation. Ich kam erst einmal ins Krankenhaus, dort freundete ich mich mit dem zuständigen Arzt an; er bot mir an, bei ihm zu wohnen. Er half mir dabei, imAlltag herauszufinden, was ich konnte und was nicht. Durch seine Tochter begriff ich beispielsweise, dass ich Windeln wechseln konnte. Also vermuteten wir, dass ich ein Kind hatte, vielleicht auch mehrere. Ich reparierte sein Auto, alles Mechanische schien mir Spaß zu machen und zu liegen. Außerdem kannte ich die meisten Dialoge aus Audiards Filmen auswendig, auch wenn ich ansonsten in Sachen Kino keine Ahnung hatte … Und ich konnte eine köstliche Birnen-Charlotte zubereiten! Das ist jetzt stark verkürzt. All das erfuhr ich nach und nach. Als ich meine Familie und meine Freunde wiedertraf, hätte ich mich eigentlich freuen müssen. Aber plötzlich ging es mir schlecht. Das Schlimmste war, dass ich nicht einmal wusste, warum. Ich weiß es übrigens immer noch nicht.«
»Und Ihre Frau?«
»Ach, meine Frau! Das war wirklich rätselhaft. Ich spürte, dass sie sich angezogen fühlte von dem Mann, der ich geworden war – anscheinend hatte ich mich verändert. Sie müssen wissen, dass wir getrennt waren … Wir starteten einen neuen Versuch des Zusammenlebens. Drei Tage lang. Eine Katastrophe!«
»Aber warum haben Sie sich darauf eingelassen, wenn Sie zum Zeitpunkt Ihres Vergessens doch getrennt waren?«
»Ich weiß es nicht. Als wir uns wiedersahen, war ich neugierig auf meine Familie. Ich wollte es wissen.«
Während wir miteinander reden, haben wir sein Büro verlassen, und ich folge ihm durch die Straßen. Er scheint sich in diesem Viertel auszukennen. Wir betreten ein Bistro.
»Sie haben doch nichts gegen eine leckere Kleinigkeit aus der Regionalküche? Hier gibt es nur ein Tagesgericht.«
»Überhaupt nicht!«
Henri stellt mir Fragen zu meiner Romanheldin. Ich erzähle ihm von meiner Frau ohne Gedächtnis, von ihrer Sehnsucht nach Gewissheit, von ihren Ängsten. Ich beschreibe ihr Gefühl, in ihrem eigenen Leben eine andere zusein, das er selbst so gut zum Ausdruck brachte in unseren Gesprächen. Wenn ich sie so beschreibe, bin ich es nicht mehr selbst, sie wird eine richtige Figur, und mein Plan, ihr Abenteuer zu Papier zu bringen, wird immer konkreter. Ich gewinne den nötigen Abstand, wenn ich meine Geschichte in die dritte Person setze.
»Und wissen Sie schon, wie die Geschichte ausgeht? Also, ich meine … Wissen Sie, warum sie die Erinnerung an diese zwölf Jahre verloren hat?«
»Nicht so ganz. Ich habe eine Idee, aber ich lasse mich mehr von meinem Instinkt leiten.«
Er holt tief Luft.
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