Die Liebe der anderen
schließlich, seine Familie ausfindig zu machen.«
Ich schrecke auf. Neugierig verfolge ich den Bericht über diesen Mann und ärgere mich über den Journalisten, weil er das Interview so schlecht führt. Ich wünschte, ich könnte die Fragen selber stellen. Auch die Ehefrau kommt in der Reportage zu Wort. Ich notiere mir den Namen der Sendung und den des Journalisten. Es gab keinerlei Hinweis darauf, wie er geheilt wurde. Offensichtlich hat er noch nicht
entdeckt
, wer er wirklich ist. Man hat ihm lediglich alles erzählt. Ich höre die Tür ins Schloss fallen. Es ist Mitternacht.
»Hast du auf mich gewartet? Du bist ein Schatz.«
Ich schalte schnell aus, fühle mich ertappt. Pablo lächelt. Sein Blick fällt auf mein Notizheft.
»Du schaust fern?«
»Ich habe mich ein bisschen inspirieren lassen für eine Geschichte.«
»Eine Geschichte? Erzählst du sie mir?«
Nein, ich glaube, lieber nicht.
»Ich würde gern mit Loïc Bellieu sprechen.«
»Am Apparat.«
»Sind Sie der Journalist, der die Reportage über den Mann mit Gedächtnisverlust gedreht hat?«
»Ganz genau. Und Sie sind?«
»Marie de Las Fuentes. Ich arbeitete bis vor kurzem für
TV Locale et Compagnie
und möchte nun einen Roman über eine Frau ohne Gedächtnis schreiben. Meinen Sie, ich könnte den Mann kontaktieren, um ihm ein paar Fragen zu seiner Erfahrung zu stellen?«
»Ich denke, das können Sie. Er ist ein sehr offener Mensch. Ich gebe Ihnen seine Nummer, und Sie warten einfach noch ein paar Tage ab, damit ich ihn über Ihren Anruf informieren kann.«
»Wahrscheinlich konnten Sie nicht alles in Ihrer Reportage unterbringen … Was halten Sie persönlich denn von seiner Geschichte?«
»Na ja, als jemand, der ihn vorher nicht kannte, muss ich sagen, dass ich ihn schon recht merkwürdig finde. Zwischen ihm und seinen Verwandten scheint eine große Distanz zu herrschen. Mich hat das anfangs überrascht. Ich habe ihn dazu befragt, woraufhin er meinte, seine Angehörigen seien Fremde für ihn. Schlimmer: Er habe sie sich nicht ausgesucht, auch seine Frau nicht … Aber davon abgesehen ist er sympathisch.«
»Wurde er behandelt?«
»Ja, eine Zeitlang. Weil er über keinerlei Zahlungsmittel verfügte und sich auch nicht ausweisen konnte, wurde er zunächst auf einer Polizeiwache abgeliefert. Von dort haben sie ziemlich schnell für eine Überweisung ins Krankenhaus gesorgt, wo er alle möglichen Untersuchungen über sich ergehen lassen musste. Dabei kam heraus, dass er weder einen Schock erlitten hatte, noch aus einer psychiatrischen Klinik geflohen war.«
»Dann haben sie meine geistigen Fähigkeiten unter die Lupe genommen. Es stellte sich heraus, dass ich mehrere Sprachen beherrschte und mich gut mit Informatik auskannte. Was Orte anging, erinnerte ich mich an Paris. Aber dort wohnte ich seit meiner Kindheit nicht mehr.«
Endlich telefoniere ich mit Henri, dem Mann ohne Gedächtnis. Erst nach einer Woche konnte ich mich dazu durchringen, ihn anzurufen. Sicher hatte ich Angst davor. Ich habe ihm nicht gesagt: »Mir geht es genauso wie Ihnen.« Ich habe ihm von dem Buch erzählt, das ich angeblich schreibe, von der Geschichte einer Frau, die das Gleiche oder fast das Gleiche erlebt wie er.
Ich rege ein Treffen an und schlage ihm vor, dass wir dann über meine Protagonistin sprechen, damit er mir sagen kann, ob er es für plausibel hält, wie sie auf die Amnesie reagiert. Er scheint nichts dagegen zu haben, seinen Beitrag zu einem Roman zu leisten, unter der Bedingung, dass es nicht um seinen Fall geht. Ich beruhige ihn, meine Heldin hat bereits ihre eigene Geschichte.
»Ich arbeite im zehnten Arrondissement, bei einem Softwareunternehmen. Holen Sie mich doch übermorgen zum Mittagessen ab. Aber wissen Sie, ich bin nicht sicher, ob ich Ihnen helfen kann, denn der Typ, von dem mir meine Freunde und Verwandten erzählen, ist ein ziemlich langweiliger Mensch … Für mich ist er ein Fremder, ein Fremder, der mich überhaupt nicht interessiert. Ich habe nicht einmal das Gefühl, dass ich dieser Mensch je gewesen sein könnte. Ich weiß, wer ich heute bin, und das reicht mir.«
Wie in Trance notiere ich mir die Adresse. Ich habe jemanden kennengelernt, der das Gedächtnis verloren hat wie ich. Ich muss ihn unbedingt fragen, ob auch er das Bedürfnis hatte zu lügen. Aber nein, bei ihm wusste die Umgebung ja von Anfang an Bescheid, weil seine Geschichte und sein Foto in der Zeitung veröffentlicht wurden. Und er hatte wirklich alles
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