Die Liebe der anderen
»Also, ich, der ich kein einziges gelebtes Jahr behalten habe, kann Ihnen sagen: Wenn wir die Gefühle und Empfindungen, die uns erfassen, nicht mehr meistern können, wenn äußere Kräfte auf unsere inneren Abgründe treffen, dann gibt es zwei Möglichkeiten: Wir sterben oder wir werden verrückt. Ihre Heldin und ich haben die falsche Wahl getroffen. Wir haben unser Innerstes abgetötet, und sind, von außen betrachtet, verrückt geworden …«
Ich bin eingeknickt. Nach Henris Einführung ins Internet habe ich mich geschämt, es war, als wäre ich auf einen anderen Planeten verbannt gewesen. Angesichts dieser Unwissenheit beschloss ich, nicht länger nur um mich selbst zu kreisen.
Jetzt sitze ich in der größten Bibliothek von Paris vor zwölf Bänden einer Chronik.
1988–2000. Ganz schön beeindruckend! Wie können all diese Informationen in ein einziges Gehirn passen? Behalten wir die Ereignisse als solche oder nur die Empfindungen, die sie in uns auslösen? Im Moment stochere ich herum … Ich schlage das eine Jahr auf, dann das andere, ich überfliege, blättere vor und zurück. Am Ende des Nachmittags weiß ich Bescheid über das, was die Welt in den letzten Jahren bewegt hat: über den Golfkrieg, den Krieg inBosnien, die zweihunderttausendste Folge des Konflikts zwischen Israel und Palästina, einen bemerkenswerten Anstieg der HIV-Infektionen, den Fall der Berliner Mauer, den Untergang des Kommunismus, den französischen Titel in der Fußball-WM und schreckliche ethnische Auseinandersetzungen hier und dort … Und dann all die Informationen, die mir heruntergespielt scheinen, aber welche die kommenden Jahre sicher bestimmen werden: die Erderwärmung, die Klimakatastrophe, das Ozonloch und der menschliche Wahnsinn, alles künstlich herstellen zu wollen, sogar das Leben selbst! Kurz, der große Paukenschlag des Jahrhunderts ist nicht ertönt, während ich »schlief«. Aber das alles an einem Nachmittag zu schlucken, versetzt mich in Angst und Schrecken. Ich hatte recht, mich um all dies nicht zu kümmern. Doch werden meine Kinder in dieser Welt aufwachsen, eine Idee, die ich weit erschreckender finde als die Tatsache, dass ich mit diesen Gegebenheiten werde umgehen lernen müssen. Als ich am Abend die Bibliothek verlasse, habe ich das Gefühl, die Welt ringsum habe nur noch eine Gnadenfrist …
»Ich weiß nicht mehr, wer ich bin … Ich habe das Gedächtnis verloren. Und du, wer bist du?«
»Hör auf, Geneviève, das ist nicht lustig.«
»Wo sind wir? Verrat mir deinen Namen … Kennst du mich? Wie heiße ich?«
Ich fahre aus dem Schlaf hoch.
Es ist zwei Uhr morgens, alles ist ruhig. Pablo schläft neben mir und hat einen Arm auf meinen Bauch gelegt. Ich bin in diesem komischen Traum gefangen, die perfekte Wiederholung einer Episode aus meiner Kindheit. Wir wohnten Haus an Haus, Genevièves Mutter war mit meiner Großmutter befreundet. Ihre Mutter war ein bisschen die meine, meine Großmutter ein bisschen die ihre. Eine Art Patchwork-Familie. Auch ihr Vater war ein bisschen meiner, weiles bei uns ja keinen Mann im Haus gab. Wir sind zusammen aufgewachsen, uns trennte nur ein Jahr voneinander, ich war die Ältere. Sie war meine Schwester, mein Double, meine zweite Hälfte, die Kehrseite meiner Seele. Wir hatten den gleichen Haarschnitt, die gleichen Kleider, die gleichen Spiele und manchmal eine gewisse Grausamkeit der anderen gegenüber. Mal war sie es, die mich in einen verrückten Einfall verstrickte. Ein anderes Mal war ich fähig, sie zwei Stunden lang in der Garage einzuschließen, um sie hinter dem Tor betteln zu hören. Ungefähr bis wir achtzehn waren, hatten wir zusammen eine Menge Spaß und Vergnügen, wir waren viel unterwegs und teilten alles. Dann lernte ich Jeff kennen, und alles änderte sich. Geneviève konnte die Zahl Zwei nicht ertragen, wenn sie nicht selber beteiligt war. Ich für mein Teil gab nichts auf ihre psychologischen Studien und demontierte ihre Eifersuchtsmechanismen. Ich sagte ihr: Du betreibst Psychologie wie jemand, der etwas irgendwo hinpackt, wo er sicher sein kann, es garantiert nicht wiederzufinden. Um mich zurückzugewinnen, versuchte sie alles, sie schreckte nicht einmal davor zurück, Jeff den Hof zu machen, der aber so in seiner Musik aufging, dass er es nicht einmal bemerkte. Damals wäre es mir nie in den Sinn gekommen, ihr das übelzunehmen. Sie wollte mir ähnlich sein. Auch sie wollte lieben. Das schmeichelte mir. Sie machte mich zu ihrem Vorbild. Und
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