Die Liebe der anderen
Billy Holiday und träume vor mich hin. Ich räume Bücherregale auf, lese einzelne Sätze nach und spiele Orakel. Ich lange mit geschlossenen Augen nach einem Werk und schlage es irgendwo auf. Aus einem zufällig gegriffenen Buch spricht das Leben. Das Telefon klingelt. Ich strecke instinktiv die Hand aus … Aber nein, ich warte den Anrufbeantworter ab: »Bonjour, Marie, hier ist Laurence. Du hast noch eine Sitzung bei mir gut, weißt du noch? Wenn du also morgen vorbeikommen möchtest, reserviere ich dir den Termin um fünfzehn Uhr …«
Ich nehme ab. »Laurence, ich bin da.«
»Ich hatte Angst, du wärst schon in Urlaub.« Laurence erklärt mir, dass sie durch den Umzug des Salons ziemlich mit ihrer Terminplanung durcheinandergekommen sei, mir aber noch eine Sitzung schulde. »Erinnerst du dich?«
»Ja, natürlich.« Lügen gehört inzwischen zu meinem Leben.
»Schreib dir mal meine neue Adresse auf, du wirst sehen, es ist toll. Ich habe jetzt sogar eine Terrasse und viel Licht, das ist was anderes als im Erdgeschoss. Die neue Telefonnummer hast du schon, oder?«
Laurence … Unglaublich, dass dieser Kontakt noch besteht, ich wäre niemals auf die Idee gekommen, ihn neu zu knüpfen. Sie ist Kosmetikerin, ich lernte sie kennen, als ich gerade frisch nach Paris gezogen war. Ein lebendes Gedächtnis, das ich befragen könnte!
Sie hat immer noch diese sanfte Stimme und den leichten Toulouser Akzent. »Du kannst dich freuen, ich bin ein bisschen mehr in deine Nähe gerückt.«
Ich möchte sie nicht fragen, wo sie früher ihren Salon hatte, morgen sehen wir weiter.
Es ist schön heute Abend, sehr schön. Ich habe geschlafen, geträumt, das Leben dahinplätschern lassen. Ich bereue es nicht, dass ich nach Paris zurückgekehrt bin. Ohne Pablo wäre mir unser Häuschen traurig vorgekommen. Das Leben dort mit ihm und den Kindern war so erfüllt in den letzten Tagen!
Paris leert sich allmählich. Die Atmosphäre ist unbeschwert, als wären auch die Hiergebliebenen in Urlaub. Ich fühle mich wohl, so allein. Ich könnte François oder Juliette oder Catherine anrufen, ich weiß, dass sie da sind, aber dazu habe ich keine Lust. Ich schlendere in Richtung Saint-Germain, setze mich in ein Straßencafé, schaue mir die Gesichter der Passanten an, lese darin Dinge, die sie lieber verbergen möchten. Vielleicht hoffe ich auch, dass meine Erinnerung mir ein winziges Zeichen gibt … Nur eine kleine Ermutigung.
Ich gönne mir den Luxus eines Sonnenuntergangs auf dem Platz der Verliebten. Diese Statue ist mir schon aufgefallen, als ich die Kinder zur Schule brachte, und bislang hatte ich noch keine Gelegenheit, sie mir aus der Nähe anzusehen. Sie sind eng umschlungen, und von welcher Seite man sie auch betrachtet, geht von den beiden reglosen Gestalten eine unglaubliche Lebendigkeit aus. Sie scheinen sich stillschweigend zu lieben, mit einer unvorstellbaren Beständigkeit. Ihre Innigkeit ist schwindelerregend. Jeder Blickwinkel ist geteiltes Geheimnis, unerklärliche Vertrautheit. Ich sehe sie mir lange an, sie verströmen etwas, das mit dem Mysterium meines Lebens und meines Abenteuers zu tun hat, aber ich weiß noch nicht, was. Ich gebe mich ganzihrem Gefühl, der Ewigkeit dieses Gefühls hin. Was will das steinerne Liebespaar mir sagen, das ich nicht hören kann?
Bevor ich die Wohnung verlasse, stecke ich das Buch ein, das ich gestern zufällig herausgegriffen habe. Ich lese den Titel erst auf der Terrasse meines Lieblingsitalieners … dem von früher. An mein früheres Leben anzuknüpfen ist die einzige Antwort auf die Abwesenheit meiner Familie. Enzo ist immer noch da, kaum älter geworden. Wahrscheinlich färbt er sich die Haare. Ich muss lachen. Ich kann diesem
bello ragazzo
doch nicht sagen, dass man ihm die zwölf Jahre nicht ansieht …
Ferias
von Federico García Lorca – das Buch muss während dieser verschütteten Jahre im Regal gelandet sein, oder es gehört Pablo. Es ist ein Gedichtband auf Spanisch, sieht gar nicht so alt aus. Ein Geschenk? Vor kurzem gekauft?
»O
bellissima
, warst du lange nicht hier! Wie geht es deine
amante
? Und die
bambini
?«
Ich habe sie also in Enzos Italien eingeweiht. Perfekt, das habe ich gut gemacht.
»Sie sind im Urlaub.«
»Und du bist alleine? Das ist aber gar nicht klug.«
»Du musst nur den Vorhang zuziehen, Enzo. Dann kann ich deine Pasta genießen und fühle mich nicht wie eine Exhibitionistin der Gaumenfreude.«
»Ah, immer noch dieselbe. Du bist die beste
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