Die Liebe der anderen
könnte ihm sagen, was ich fühle, mit ihm die Straßen und Plätze wiederentdecken, wo wir uns geküsst haben. Ich würde ihm beschreiben, was ich empfinde, und er würde mir erzählen, was wir hier erlebt haben. Aber könnte die Erinnerung das Maß meiner Erregung erreichen?
Gestern Abend habe ich Henri angerufen, um zu hören, was es Neues gibt, und um ihn zu fragen, wie ich mir im Internet Informationen besorge. Er machte eine komische Bemerkung.
»Wissen Sie, Marie, meine Informatikerfreunde sagen immer: ›Du hast Platz auf deiner Festplatte gemacht, damit wieder was draufpasst.‹ Aber Sie und ich, Marie, wir wissen nur zu gut, dass dem nicht so ist. Wir haben den Zugriff auf einige Dateien verloren, aber sie sind immer noch da. Sie nehmen einen gewissen Raum ein und sind unersetzlich.«
»Nicht ich, Henri, meine Romanfigur.«
»Ja ja, gut … Aber so, wie Sie darüber reden, ist es fast, als wären Sie es selbst.«
Ich lachte. »Ja, da haben Sie recht.«
Plötzlich wird mir kalt. Ich sehne mich nach meinem Bett. Ich nehme ein Taxi nach Hause.
»Wo soll es denn hingehen, junge Frau? Nach Venedig oder nach Gordes?«
Er hat das nicht wirklich gesagt, ich habe wohl geträumt. Beim Einschlafen habe ich nur einen winzigen Gedanken: Pablo ist mir ganz nah. Ich glaube, wenn ich die Hand ausstrecken würde, könnte ich seinen Körper im Bett ertasten.
»Marie, du sieht toll aus! Ich freue mich so, dich zu sehen! Dabei warst du letztes Mal gar nicht gut drauf, so müde.«
»Wann war das denn noch mal?«
»Anfang Mai, glaube ich. Wir haben eine Ganzkörperbehandlung gemacht und nicht viel geredet … Ich habe dein Bedürfnis zu schweigen respektiert, aber ich habe gespürt, wie erschöpft du warst.«
Ich betrachte sie heimlich. Sie ist etwas rundlicher geworden, hat die Haare zu einem Knoten hochgesteckt, und immer noch umgibt sie diese sanfte Aura.
»Mach es dir bequem. Wir fangen mit einer kleinen Entspannungsübung an.«
»Ich hätte viel früher zu dir kommen sollen. Ich hatte großen Kummer, nachdem ich aufgehört hatte zu arbeiten, außerdem war ich sehr mit den Kindern beschäftigt.«
Klar. Das hatte sie sich schon gedacht. »Als du nicht angerufen hast, habe ich deinen Termin an einen Notfall abgetreten …«
Ich kichere. »Du hast Notfälle?«
»Ja, irgendwie schon. Hysterische Frauen, die in letzter Minute merken, dass sie einen Termin brauchen. Das sind nicht die Verrücktesten, die hier hereinspazieren. Weißt du, manchmal überlege ich, ob es nicht besser gewesen wäre, mich auf Psychologie zu spezialisieren.«
»So schlimm?«
Sie lacht mit einem Mal nicht mehr, und auf ihrer Stirn zeichnet sich eine Sorgenfalte ab. »Die größte Herausforderung war wohl die eine, die ich neulich rausgeworfen habe.«
Laurence? Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, dass sie irgendwen rauswirft.
»Eine furchtbare Geschichte. Sie war schon lange Kundin bei mir. Attraktiv, intelligent, ganz nett, aber irgendwas an ihr störte mich seit jeher. Irgendwie stimmte die Chemie zwischen uns nicht. Jedenfalls ging sie beruflich ins Ausland, und ich habe sie lange nicht gesehen. Hin und wieder kam sie mal für ein oder zwei Monate nach Paris, aber sie lebte in den USA. Wenn sie hier war, machte sie immereinen Termin bei mir. Irgendwann erzählte sie mir auch persönlichere Dinge. Sie gestand mir, dass sie sich zwanghaft zu verheirateten Männern hingezogen fühlte. Sich verlieben bedeutete für sie, sich einen Mann auszugucken, den sie mit einer ›Kriegsstrategie‹ erobern musste, wie sie es ausdrückte. Ihr war ein Typ ins Netz gegangen, der in derselben Firma arbeitete wie sie und seit zwei Jahren verheiratet war. Er liebte seine Frau über alles und sah keine andere an. In ihren Augen war er der interessanteste Fall, der ihr bisher untergekommen war. Sie begann ihm Briefchen zuzustecken, präparierte sein Jackett mit Haaren und Parfüm … Sie tat also alles dafür, dass seine Frau Verdacht schöpfte. Gleichzeitig arbeitete sie mit größter Perversion daran, nach und nach die Vertraute dieses Mannes zu werden. Er war verzweifelt, er sagte ihr: ›Ich verstehe das nicht, meine Frau glaubt, ich würde sie betrügen.‹ Je hilfloser er wurde, desto netter war sie. Aber warte, das dicke Ende kommt erst noch. Sie erzählte mir das alles mit einer Begeisterung, als würde sie jeden Schritt ihres Plans noch einmal erleben. Da der Mann immer noch nicht nachgab, rief sie seine Frau an und eröffnete ihr, sie sei
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