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Die Liebe der anderen

Die Liebe der anderen

Titel: Die Liebe der anderen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frederique Deghelt
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Richterin über meine Küche. Und jetzt möchtest du bestimmt Rigatoni? Pesto? Valpolicella?«
    »Ganz genau.«
    Ein Mann, garantiert ein Strohwitwer, macht prompt einen Annäherungsversuch. »Sie essen ganz allein?«
    Ich runzle die Stirn. »Nein, mit Federico, warum?«
    »Ich dachte, wir könnten vielleicht …«
    »Ich setze niemals zwei Dichter an einen Tisch.«

    Ich denke an Pablo in seiner Klausur. Ein altes Haus? Sicher. Aus Stein? Bestimmt. Berge ringsum? Ein paar. Weinstöcke … Sonnenuntergang … Wieder Nacht, hellblau.
    Er fehlt mir. Das ungewohnte Gefühl sanfter Sehnsucht. Darin ist nichts Grausames, nur Entfernung. Ist das die Art, auf die man nach zehn Wochen liebt? Ich weiß es nicht, ich weiß es nicht mehr. Ich habe nie gewusst, was Liebe ist, das wird mir nun klar. Lieben heißt, nichts zu fordern. Konnte ich ihn nicht mehr ertragen oder wollte ich nicht mehr, weil ich mich im Stich gelassen fühlte?
    Mein Gedächtnisverlust hat mir eine Art Hilfs-Gedächtnis aus den blassen Eindrücken und Gefühlen anderer beschert. Erinnerungen, die ich nicht erlebt habe, die wir jedoch scheinbar miteinander teilen. Aber ich habe nicht die geringste Lust, Erinnerungen zu teilen. Eine Erinnerung ist etwas Intimes, das teilt man nicht. Ich bin vorübergehend verschwunden. Die Zeit ist nur noch ein ebener Untergrund, auf den ich die Gegenwart setze. Punkt. Selbst die ferne Vergangenheit ist für mich Gegenwart, weil ganz nah. Wenn mir danach ist, bin ich ohne Probleme zehn Jahre alt. Ich habe keine Angst mehr, ich stoppe den Lauf der Zeit, das ist alles. Eine Seite aus meinem Heft, die ich für Pablo herausgerissen hatte, hat sich in meine Handtasche verirrt wie eine letzte an mich selbst gerichtete Botschaft: »Ich möchte sein wie die Kinder, möchte Kummer, Angst und Wut mit der Gegenwart vertreiben und ganz im Jetzt leben, sonst nichts.« Und jetzt bin ich siebenunddreißig. Ich weiß nichts über die letzten zwölf Jahre, die mir zwischen den Fingern zerronnen sind. Ich bin wie ein alter Mensch, der sich lediglich einprägt, wovon sein Gedächtnis nichts weiß. Im normalen Leben – eigentlich sollte ich sagen: im anormalen Leben von heute –, hat man selten die Gelegenheit, sich diesen Abstand zu gönnen, sich zwölf Jahre unter den Arm zu klemmen, in die Zukunft zu springen und im Geiste leicht zu sein wie eine Fünfundzwanzigjährige. Ich liebevoller Leidenschaft, ohne Missmut und Zweifel. Und wenn ich mich im Spiegel betrachte, dann mit der Erinnerung der Frau, die fünfundzwanzig ist und gerade einen Mann kennengelernt hat. Dabei nehme ich die Veränderungen sehr deutlich wahr, als wäre ich eine andere, die sich gnadenlos selbst betrachtet.
    Meine Erinnerungen in dem Heft nachzulesen hat mich mit dem Schatten meines verlorenen Gedächtnisses versöhnt. Ich bin diesen Weg gegangen, und jedes Wort war wie ein Stich, ich konnte die Verletzung körperlich spüren. Sicher, ich war gekränkt und gehässig, aber ich war bei vollem Bewusstsein. Ich kann meine Bösartigkeit benennen. Und indem ich sie benenne, schließe ich damit ab. Ich weiß nicht, wie und warum sie mich beherrschen konnte, mir graut beim Anblick dieser Harpyie, und ich frage mich, wie sich diese Energie kanalisieren lässt. Ich bin kein Opfer, und ich möchte auch keins sein. Dafür nehme ich es sogar in Kauf, aus mir herauszutreten. Ich habe immer noch Lust zu schreiben, aber ich bin nicht auf ein Drama oder eine Tragödie aus. Ich will Glück. Ich werde nicht mehr Hefte mit einem Klumpen aus Schmerz füllen. Ich bin jetzt die andere, ich bin glaubwürdig, weil ich ihr vertraue, und mir kommt zu, was die andere nicht mehr besaß.
    Ein älterer Herr, der allein an seinem Tisch sitzt und mit Enzo plaudert, reißt mich aus meinen wirren Gedanken.
    »Und Sie, Madame, was haben Sie vor fünf Jahren gemacht?«
    »Ich weiß es nicht, Monsieur, ich habe mein Gedächtnis getötet.«
    »Ah, sehen Sie, Enzo? Es gibt noch junge Menschen mit Gespür. Sie haben es richtig gemacht, mein Kind, ich werde nämlich von meiner Vergangenheit getötet.«
    Ich zahle, breche auf, spaziere an den Kais entlang durch die Nacht … Irgendetwas zieht mich an … Das Gedächtnis sitzt nicht nur im Kopf, sondern im ganzen Körper. Ich binerregt, meine Brustwarzen richten sich auf, als würden sie sich an etwas erinnern. Das ist schön. Mehr noch, es ist viel irrsinniger als eine Erinnerung, die immer eine nostalgische Note hat. Ich wünschte, Pablo wäre hier, und ich

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