Die Liebe einer Frau
haben. Und dieses Mädchen in seinem verschmutzten und mitgenommenen Zustand war alles andere als attraktiv. Aber vielleicht hatte das Mädchen selbst ein anderes Bild von sich – war es gewohnt, auf alle attraktiv zu wirken. Jedenfalls fuhr sie mit der Hand über Eves nackten Oberschenkel, bis knapp unter den Saum der Shorts, die Eve trug. Es war eine routinierte Geste, bei aller Betrunkenheit. Gleich beim ersten Versuch voll zuzugreifen wäre zu viel gewesen. Eine routinierte, automatisch aufreizende Geste, doch so bar aller echt empfundenen, drängenden, zutraulichen Lust, dass Eve spürte, die Hand hätte ebenso gut danebengreifen und den Autositz streicheln können.
»Ich bin gut drauf«, sagte das Mädchen, und ihre Stimme, gleich ihrer Hand, bemühte sich, zu Eve eine neue Ebene der Vertraulichkeit herzustellen. »Du weißt, was ich meine? Du verstehst mich, ja?«
»Natürlich«, sagte Eve nachdrücklich, und die Hand verlor sich, nach erledigtem, müdem Hurengruß. Aber sie hatte ihre Wirkung nicht verfehlt – nicht gänzlich. Fühllos und halbherzig, hatte sie dennoch vermocht, alte Reizbahnen zu wecken.
Und die Tatsache, dass diese Hand überhaupt eine Wirkung auf sie ausübte, erfüllte Eve mit Schaudern, warf auf alle brutalen und impulsiven ebenso wie auf alle hoffnungsvollen und ernsten, mehr oder weniger unbereuten Paarungen in ihrem Leben einen Schatten. Kein Aufflammen von Scham, kein Gefühl von Sündhaftigkeit – nur einen schmutzigen Schatten. Welch ein Witz auf ihre Kosten, wenn sie jetzt anfing, sich nach einer reineren Vergangenheit und einer weißeren Weste zu sehnen.
Aber es konnte gut sein, dass sie sich immer noch, ständig, nach Liebe sehnte.
Sie fragte: »Wohin wollen Sie?«
Das Mädchen wandte sich mit einem Ruck ab und sah auf die Straße. Sie sagte: »Wo fahren Sie hin? Wohnen Sie hier?« Der raunende Tonfall der Verführung war verschwunden, wie zweifellos nach jedem Geschlechtsakt, hatte sich in eine bösartig klingende Großmäuligkeit verwandelt.
»Durch den Ort fährt ein Bus«, sagte Eve. »Er hält an der Tankstelle. Ich habe das Schild gesehen.«
»Ja, aber da ist ein Problem«, sagte das Mädchen. »Ich hab kein Geld. Ich bin da nämlich so schnell abgehauen, dass ich gar nicht dazu gekommen bin, mein Geld zu holen. Was soll ich also in einen Bus einsteigen, ohne Geld?«
Ja nicht auf eine Drohung eingehen. Sag ihr, dass sie trampen kann, wenn sie kein Geld hat. Es war unwahrscheinlich, dass sie eine Pistole in den Jeans hatte. Sie wollte nur so klingen, als könnte sie eine haben.
Aber ein Messer?
Das Mädchen drehte sich zum ersten Mal zum Rücksitz um.
»Geht’s euch gut da hinten?«, fragte sie.
Keine Antwort.
»Die sind süß«, sagte sie. »Haben die Angst vor Fremden?«
Wie dumm von Eve, an Sex zu denken, wenn die Wirklichkeit, die eigentliche Gefahr, ganz woanders war.
Eves Handtasche lag auf dem Boden des Autos vor den Füßen des Mädchens. Sie wusste nicht, wie viel Geld darin war. Sechzig, siebzig Dollar. Kaum mehr. Wenn sie Geld für eine Fahrkarte anbot, würde das Mädchen ein teures Fahrtziel nennen. Montreal. Oder mindestens Toronto. Wenn sie sagte: »Nehmen Sie alles, was da ist«, würde das Mädchen Kapitulation erkennen. Würde Eves Angst spüren und könnte versuchen, mehr zu erreichen. Was konnte das Mädchen im äußersten Fall tun? Das Auto stehlen? Wenn sie Eve und die Kinder am Straßenrand zurückließ, würde die Polizei ihr sehr bald auf den Fersen sein. Wenn sie sie tot in einem Dickicht zurückließ, konnte sie weiter kommen. Oder wenn sie sie mitnahm, solange sie sie brauchte, mit einem Messer an Eves Rippen oder der Kehle eines Kindes.
Solche Dinge passieren. Aber nicht so regelmäßig wie im Fernsehen oder im Kino. Solche Dinge passieren nicht oft.
Eve bog in die Landstraße ein, die relativ stark befahren war. Warum fühlte sie sich dadurch besser? Sicherheit dort war eine Illusion. Sie konnte mitten im Tagesverkehr auf dem Highway fahren und mit den Kindern zusammen den Tod finden.
Das Mädchen fragte: »Wohin führt diese Straße?«
»Zum Highway.«
»Fahren wir doch hin.«
»Dahin fahre ich sowieso«, sagte Eve.
»Wo geht der Highway hin?«
»Nach Norden zum Owen Sound oder rauf nach Tobermory, wo man die Fähre nehmen kann. Oder im Süden nach – ich weiß nicht. Aber er führt zu einem anderen Highway, auf dem man nach Sarnia kommt. Oder London. Oder Detroit oder Toronto, wenn man immer weiterfährt.«
Sie
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