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Die Liebe einer Frau

Die Liebe einer Frau

Titel: Die Liebe einer Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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Vater oder die schlechten Augen von Tante Mary als Bürde oder Problem bezeichnet, ebenso wenig wie Freds Schüchternheit. Nachteile und Unglücksfälle durften nicht bemerkt, nicht von ihrem Gegenteil unterschieden werden.
    In der Familie herrschte traditionell der Glaube, Jimmys Großmutter sei eine hervorragende Köchin, und das mochte einst gestimmt haben, hatte aber in den letzten Jahren deutlich nachgelassen. Die Sparsamkeit regierte in einem Ausmaß, für das jetzt keine Notwendigkeit mehr bestand. Jimmys Mutter und sein Onkel bekamen ordentliche Gehälter, seine Tante Mary erhielt eine Rente, und im Fahrradgeschäft gab es gut zu tun, aber statt drei Eiern wurde eins genommen, und der Falsche Hase musste eine zusätzliche Tasse Hafermehl verkraften. Es gab den Versuch, dies wettzumachen, indem mit der Worcestersoße übertrieben oder zu viel Muskatnuss auf den Vanillepudding gestreut wurde. Aber niemand beklagte sich. Alle lobten. Klagen waren in diesem Haus so selten wie Kugelblitze. Und alle sagten »Verzeihung«, sogar die kleinen Mädchen sagten »Verzeihung«, wenn sie miteinander zusammenstießen. Alle baten und dankten und reichten sich am Tisch zu, als wäre jeden Tag Besuch da. So kamen sie miteinander aus in diesem Haus, wo sie auf engstem Raum zusammengepfercht waren, mit vielen Jacken auf jedem Haken und Mänteln über dem Treppengeländer, mit Behelfsbetten für Jimmy und seinen Onkel Fred als dauerhafter Einrichtung im Wohnzimmer und einem Büfett, begraben unter einer Last von Kleidungsstücken, die darauf warteten, gebügelt oder geflickt zu werden. Niemand polterte auf der Treppe oder knallte die Türen oder stellte das Radio laut oder sagte etwas Unangenehmes.
    Erklärte das, warum Jimmy an diesem Samstag beim Essen den Mund hielt? Sie hielten alle den Mund, alle drei. Bei Cece war das leicht zu verstehen. Sein Vater hätte nie geduldet, dass Cece eine so wichtige Entdeckung für sich in Anspruch nahm. Er hätte ihn selbstverständlich einen Lügner genannt. Und Ceces Mutter, die alles nach der Wirkung beurteilte, die es auf seinen Vater haben konnte, hätte – vollkommen richtig – erkannt, dass sogar sein Gang aufs Polizeirevier einen häuslichen Krach auslösen würde, und ihn also gebeten, doch ja zu schweigen. Aber die anderen beiden Jungen lebten in recht geordneten Verhältnissen und hätten sprechen können. In Jimmys Haus wäre das auf Bestürzung und einige Missbilligung gestoßen, aber bald hätten alle eingeräumt, dass es nicht Jimmys Schuld war.
    Buds Schwestern hätten gefragt, ob er bescheuert wäre. Sie hätten vielleicht sogar die Situation bis zu dem Vorwurf verdreht, dass es ihm, bei seinen ekligen Angewohnheiten, ähnlich sah, eine Leiche zu finden. Sein Vater war jedoch ein vernünftiger, geduldiger Mann, gewohnt, sich bei seiner Arbeit als Güterabfertiger auf dem Bahnhof viele seltsame Schauergeschichten anhören zu müssen. Er hätte Buds Schwestern zum Schweigen gebracht und nach einem ernsten Gespräch, um sicherzugehen, dass Bud die Wahrheit sagte und nicht übertrieb, die Polizei angerufen.
    Es lag einfach daran, dass ihre Häuser ihnen zu voll vorkamen. Zu viel ging bereits vor sich. Das traf auf das Haus von Cece Ferns ebenso wie auf die anderen zu, denn selbst die Abwesenheit von Ceces Vater war ununterbrochen beherrscht von den Erinnerungen, den Drohungen seiner tollwütigen Anwesenheit.
     
    »Hast du’s gesagt?«
    »Und du?«
    »Ich auch nich.«
    Sie gingen ins Stadtzentrum und achteten nicht darauf, welchen Weg sie nahmen. Sie bogen in die Shipka Street und merkten plötzlich, dass sie an dem verputzten Bungalow vorbeiliefen, in dem Mr. und Mrs. Willens wohnten. Sie erkannten ihn erst, als sie unmittelbar davor waren. Er hatte zu beiden Seiten der Haustür ein kleines Erkerfenster und eine Vortreppe, die breit genug für zwei Gartenstühle war. Jetzt standen sie nicht da, aber an Sommerabenden saßen Mr. Willens und seine Frau darin. Auf der einen Seite des Hauses war ein Anbau, mit einem Flachdach und einer weiteren Haustür, zu der ein eigener Weg führte. Auf einem Schild neben dieser Tür stand d.m. willens, optiker. Keiner der Jungen hatte je diese Praxis aufgesucht, aber Jimmys Tante Mary ging dort regelmäßig um ihre Augentropfen hin, und seine Großmutter hatte dort ihre Brille bekommen. Ebenso die Mutter von Bud Salter.
    Der Putz hatte eine schmutzig rosa Farbe, und die Türen und Fensterrahmen waren braun gestrichen. Die zusätzlichen

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