Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Liebe einer Frau

Die Liebe einer Frau

Titel: Die Liebe einer Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
Vom Netzwerk:
Wetters offen, und sogar draußen auf der Gasse konnte man den Pfeifentabak und die Zigarren riechen. Es waren nicht nur Polizisten, die in der Wachstube saßen, besonders an Samstagnachmittagen, wenn im Winter der Ofen brannte und im Sommer der Ventilator ging und die Tür offen stand, um an einem angenehmen Tag wie heute die frische Luft hereinzulassen. Colonel Box war mit Sicherheit da – sie hörten sogar schon die Pfeifgeräusche, die er von sich gab, den langgezogenen Nachhall seines asthmatischen Gelächters. Er war ein Verwandter von Jimmy, aber das Verhältnis hatte sich abgekühlt, weil er die Heirat von Jimmys Vater nicht guthieß. Mit Jimmy, wenn er ihn überhaupt erkannte, sprach er in erstauntem, ironischem Tonfall. »Sollte er dir einen Vierteldollar oder etwas anbieten, sagst du, du brauchst das nicht«, hatte Jimmys Mutter ihm eingeschärft. Aber Colonel Box hatte noch nie solch ein Angebot gemacht.
    Außerdem war bestimmt Mr. Pollock da, der früher den Drugstore gehabt hatte und jetzt Rentner war, und Fergus Solley, der nicht schwachsinnig war, aber so aussah, weil er im Ersten Weltkrieg Gas abbekommen hatte. Den ganzen Tag lang saßen diese Männer und noch andere da und spielten Karten, rauchten, erzählten Geschichten und tranken Kaffee auf Kosten der Stadt (wie Buds Vater sagte). Jeder, der eine Beschwerde vorbringen oder eine Anzeige erstatten wollte, musste es unter ihren Augen und wahrscheinlich auch vor ihren Ohren tun.
    Spießrutenlaufen.
    Vor der offenen Tür blieben sie beinahe stehen. Niemand hatte sie bemerkt. Colonel Box sagte: »Ich bin noch nicht tot«, und wiederholte den letzten Satz einer Geschichte. Langsam, mit gesenkten Köpfen, gingen sie an der Tür vorbei und stießen nach Schottersteinchen. Erst als sie um die Ecke des Gebäudes gebogen waren, schritten sie rascher aus. Neben dem Eingang vom Pissoir klebte ein frischer Strahl von klumpigem Erbrochenem an der Wand, und auf dem Schotter standen leere Flaschen. Sie mussten zwischen den Mülltonnen und den hohen, wachsamen Fenstern vom Büro des Stadtdirektors hindurch, und dann waren sie vom Schotter herunter und wieder auf dem Marktplatz.
    »Ich hab Geld«, sagte Cece. Diese sachliche Mitteilung brachte allen Erleichterung. Cece klimperte mit den Münzen in seiner Tasche. Es war das Geld, das seine Mutter ihm gegeben hatte, nachdem er das Geschirr abgewaschen und ins Schlafzimmer geschaut hatte, um ihr zu sagen, dass er wegging. »Nimm dir fünfzig Cent von der Kommode«, hatte sie gesagt. Manchmal hatte sie Geld, obwohl er nie sah, dass sein Vater ihr welches gab. Und immer, wenn sie »Nimm dir« sagte oder ihm ein paar Münzen zusteckte, begriff Cece, dass sie sich für ihr Leben schämte, für ihn und vor ihm schämte, und in diesen Momenten hasste er sie regelrecht (obwohl er froh über das Geld war). Besonders, wenn sie sagte, dass er ein guter Junge war und nicht denken dürfte, sie sei ihm nicht dankbar für alles, was er tat.
    Sie nahmen die Straße, die zum Hafen hinunterführte. Neben Paquette’s Tankstelle stand eine Bude, in der Mrs. Paquette Hot Dogs, Eiscreme, Süßigkeiten und Zigaretten verkaufte. Sie hatte sich geweigert, ihnen Zigaretten zu verkaufen, auch als Jimmy sagte, sie seien für seinen Onkel Fred. Aber sie nahm ihnen nicht übel, dass sie es versucht hatten. Sie war eine dicke, hübsche Frau, eine Frankokanadierin.
    Sie kauften ein paar Lakritzstangen, schwarze und rote. Später, wenn sie vom Mittagessen nicht mehr so satt waren, wollten sie sich auch noch Eis kaufen. Sie gingen hinüber zu der Stelle, wo am Zaun zwei alte Autositze aufgestellt waren, unter einem Baum, der im Sommer Schatten spendete. Sie teilten sich die Lakritzstangen.
    Captain Tervitt saß auf dem anderen Sitz.
    Captain Tervitt war wirklich einmal Kapitän gewesen, viele Jahre lang, auf einem der Frachtschiffe auf den Großen Seen. Jetzt arbeitete er als Hilfspolizist. Er hielt die Autos an, um die Kinder vor der Schule über die Straße zu lassen, und er hinderte die Kinder daran, im Winter die Seitenstraße hinunterzurodeln. Er blies in seine Trillerpfeife und hielt die große Hand hoch, die in einem weißen Handschuh steckte und wie eine Clownshand aussah. Er war immer noch groß und gerade und breitschultrig, wenn auch alt und weißhaarig. Autos machten, was er sagte, und Kinder auch.
    Nachts ging er herum und überprüfte die Türen aller Läden, um sich zu überzeugen, dass sie abgeschlossen waren und dass niemand

Weitere Kostenlose Bücher