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Die Liebe in den Zeiten der Cholera

Die Liebe in den Zeiten der Cholera

Titel: Die Liebe in den Zeiten der Cholera Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel García Márquez
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er bei seiner Familie zum Abendessen erscheinen mußte. Das dritte Problem, für ihn das schwerwiegendste, war sein Status. Um dort hinzugelangen, mußte er die Kutsche nehmen, die jedermann kannte und die dann stets vor der Tür stand. Wie fast alle seine Freunde vom Club Social hätte er den Kutscher zum Komplizen machen können, doch das lag außerhalb seiner Denkgewohnheiten. So kam es. daß, als die Besuche bei Fräulein Lynch allzu auffällig wurden, der livrierte Kutscher der Familie sogar selbst die Frage wagte, ob er nicht besser später wiederkommen sollte, um den Doktor abzuholen, damit der Wagen nicht so lange vor der Tür stände. Juvenal Urbino schnitt ihm scharf, wie es sonst nicht seine Art war, das Wort ab.
    »Seit ich dich kenne, ist dies das erste Mal, daß ich dich etwas sagen höre, was dir nicht zusteht«, sagte er zu ihm. »Nun gut, ich will es nicht gehört haben.«
    Es gab keine Lösung. In einer Stadt wie dieser war es unmöglich, eine Krankheit geheimzuhalten, wenn der Wagen des Arztes vor der Tür stand. Manchmal, wenn es die Entfernung erlaubte, entschloß sich der Arzt sogar, zu Fuß zu seinen Patienten zu gehen, oder nahm eine Mietdroschke, um bösartigen oder voreiligen Vermutungen keine Nahrung zu geben. Solche Täuschungsmanöver nützten jedoch nicht viel, da es durch die Rezepte möglich war, die Wahrheit in den Apotheken zu entschlüsseln, so daß Doktor Urbino gelegentlich sogar falsche Medikamente zusammen mit den richtigen verschrieb, zum Schutz der Kranken und ihres heiligen Rechts, in Frieden mit dem Geheimnis ihrer Krankheiten zu sterben. Er hatte auch mehrere Möglichkeiten, auf ehrenhafte Weise die Anwesenheit seines Wagens vor dem Haus von Señorita Lynch zu rechtfertigen, allerdings nicht über einen längeren Zeitraum hinweg und schon gar nicht so lange, wie er es gewünscht hätte: das ganze Leben. Die Welt wurde ihm zur Hölle. Nachdem das erste verrückte Verlangen gestillt war, wurden sich beide der Gefahren bewußt. Doktor Urbino war jedoch nie entschieden genug, es auf einen Skandal ankommen zu lassen. In seinen Fieberdelirien versprach er alles und jedes, wenn aber dann alles vorüber war, wurde es wieder auf später verschoben. Je mehr sein Verlangen nach ihrer Nähe wuchs, wuchs auch die Angst, sie zu verlieren, so daß die Begegnungen immer gehetzter und komplizierter wurden. Er dachte an nichts anderes. Er wartete auf den Abend, und die Sehnsucht wurde ihm unerträglich, er vergaß andere Verpflichtungen, er vergaß alles außer dieser Frau, doch sobald sich sein Wagen der Marisma de la Mala Crianza näherte, flehte er zu Gott, ein Hindernis möge ihn im letzten Augenblick dazu zwingen, an dem Haus vorbeizufahren. Er fuhr in einem derartig verstörten Zustand dorthin, daß er sich manchmal darüber freute, bereits von der Ecke aus den watteweißen Kopf von Pastor Lynch zu sehen, der auf der Terrasse saß, und im Wohnraum seine Tochter, die den Kindern des Viertels mit den gesungenen Evangelien den Katechismus beibrachte. Erleichtert fuhr er dann nach Hause, um das Schicksal nicht noch weiter herauszufordern, später aber machte ihn die Sehnsucht wahnsinnig, den ganzen Tag über sollte für ihn wie alle Tage fünf Uhr nachmittags sein.
    Diese Liebschaft wurde untragbar, als der Wagen vor der Tür zum vertrauten Anblick geworden war, und nach Ablauf von drei Monaten war sie nur noch lächerlich. Sie hatten keine Zeit, miteinander zu reden, also begab sich Señorita Lynch, sobald sie den verwirrten Liebhaber eintreten sah, ins Schlafzimmer. Vorsorglich zog sie sich an den Tagen, an denen sie ihn erwartete, etwas Weites an, einen wunderhübschen jamaikanischen Rock mit rotgeblümten Volants, darunter keine Unterwäsche, nichts, weil sie meinte, ihm die Angst nehmen zu können, wenn sie es ihm nur leicht genug machte. Doch er verdarb alles, was sie aufbot, um ihn glücklich zu machen. In Schweiß gebadet, folgte er ihr, hechelnd, stürmte ins Schlafzimmer und warf alles von sich, den Spazierstock, den Arztkoffer, den Panamahut, er liebte sie in Panik, die Hosen um die Knöchel gerollt, die Jacke zugeknöpft, damit ihm nichts in den Weg kam, die goldene Uhrkette in der Weste, in Schuhen, mit allem, und mehr noch darauf aus, so schnell wie möglich wieder zu gehen, als seiner Lust nachzukommen. Sie hatte nichts davon, betrat gerade erst ihren Tunnel der Einsamkeit, wenn er sich schon wieder zuknöpfte, erschöpft, als habe er auf der Trennlinie zwischen Leben und

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