Die Liebe in den Zeiten der Cholera
Löwen. Zum ersten Mal in ihrer Ehe überwachte sie seine Verspätungen, kontrollierte ihn auf die Minute, log ihn an, um ihm unliebsame Wahrheiten zu entlocken, und war dann tödlich getroffen von seinen Widersprüchen. Eines Nachts wachte sie erschreckt von etwas Gespenstischem auf, ihr Mann betrachtete sie in der Dunkelheit, mit haßerfüllten Augen wie ihr schien. Eine ähnliche Erschütterung hatte sie in der Blüte ihrer Jugend erfahren, als sie am Fußende ihres Bettes Florentino Ariza stehen sah, nur war jene Erscheinung nicht von Haß, sondern von Liebe bestimmt gewesen. Außerdem handelte es sich diesmal nicht um ein Hirngespinst. Es war zwei Uhr morgens, ihr Mann war wach und hatte sich im Bett aufgerichtet, um sie im Schlaf zu betrachten, als sie ihn jedoch fragte, weshalb er das mache, stritt er es ab. Er legte den Kopf wieder auf das Kissen und sagte:
»Das mußt du geträumt haben.«
Nach dieser Nacht und auch wegen anderer Episoden in jener Zeit, bei denen Fermina Daza nicht genau bestimmen konnte, wo die Wirklichkeit aufhörte und wo der Wahn begann, machte sie die erstaunliche Entdeckung, daß sie im Begriffwar, verrückt zu werden. Schließlich fiel ihr auf, daß ihr Mann weder an Fronleichnam noch an irgendeinem der vergangenen Sonntage zur Kommunion gegangen war und auch keine Zeit für die geistigen Exerzitien des Jahres gefunden hatte. Als sie ihn fragte, worauf diese erstaunlichen Veränderungen in seiner geistigen Gesundheit zurückzuführen seien, erhielt sie eine ungeduldige Antwort. Dies war der entscheidende Hinweis, denn seit seiner ersten Kommunion im Alter von acht Jahren hatte er niemals versäumt, an einem so bedeutsamen Tag das heilige Abendmahl zu empfangen. Also konnte sie davon ausgehen, daß ihr Mann nicht nur in Todsünde lebte, sondern sogar entschlossen war, darin zu verharren, da er die Hilfe seines Beichtvaters nicht in Anspruch nahm. Sie hätte nie gedacht, daß man so sehr wegen etwas leiden konnte, das wohl alles andere war als Liebe, doch sie selbst führte es nun vor und entschied daher, daß ihr, wollte sie nicht daran sterben, nur der Ausweg blieb, diese Natternbrut, die ihr die Eingeweide vergiftete, mit Feuer auszutreiben. So geschah es. Eines Nachmittags setzte sie sich zum Strümpfestopfen auf die Terrasse, wo ihr Mann sich nach der Siesta gerade dem Ende seiner Lektüre näherte. Plötzlich unterbrach sie ihre Arbeit, schob die Brille auf die Stirn und sprach ihn ohne das geringste Anzeichen von Schärfe an: »Doktor.«
Er war in die Lektüre von L'ile des pingouins versenkt, einen Roman, den in jenen Tagen jedermann las, und antwortete, ohne aufzutauchen: Oui. Sie insistierte: »Sieh mich an.«
Er tat es, schaute sie an, ohne sie im Nebel seiner Lesebrille zu sehen, mußte diese aber nicht erst abnehmen, um sich in der Glut ihrer Augen zu verbrennen. »Was ist los?« fragte er. »Das weißt du besser als ich«, sagte sie. Sie sagte nichts mehr. Sie schob die Brille wieder auf die Nase und stopfte weiter Strümpfe.
Da wußte Doktor Juvenal Urbino, daß die langen Stunden der Seelenangst zu Ende waren. Anders als erwartet, löste dieser Moment keine seismische Erschütterung in seinem Herzen aus, statt dessen brach Frieden ein. Es war die große Erleichterung, daß eher früher als später das geschehen war, was früher oder später geschehen mußte: Das Phantom von Senorita Barbara Lynch hatte endlich das Haus betreten.
Doktor Juvenal Urbino hatte sie vor vier Monaten kennengelernt, als sie in der Ambulanz des Hospitals de la Misericordia darauf wartete, an die Reihe zu kommen, und ihm war sofort klargeworden, daß etwas Unwiderrufliches in seinem Leben geschehen war. Sie war eine hochgewachsene, elegante Mulattin mit starken Knochen und einer Haut von der Farbe und der sanften Beschaffenheit der Melasse. An jenem Morgen trug sie ein rotes Kleid mit weißen Tupfen, dazu einen Hut aus dem gleichen Stoff mit breiter Krempe, der ihr bis über die Augen Schatten spendete. Sie schien von eindeutigerem Geschlecht zu sein als der Rest der Menschheit. Doktor Urbino hatte keinen Ambulanzdienst, ging aber, wenn er dort vorbeikam und genug Zeit hatte, stets hinein, um seine ehemaligen Schüler daran zu erinnern, daß es keine bessere Medizin gibt als eine gute Diagnose. Daher konnte er es sich so einrichten, daß er bei der Untersuchung der unerwarteten Mulattin zugegen war, achtete aber darauf, daß seine Schüler keine Geste an ihm bemerkten, die nicht zufällig
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