Die Liebe in den Zeiten der Cholera
Tod den absoluten Liebesakt vollbracht, während er in Wirklichkeit gerade all das geschafft hatte, was der Liebesakt mit einer Turnübung gemeinsam hat. Doch er hatte sich an seine Ordnung gehalten: die genaue Zeit, um bei einer Routinebehandlung eine intravenöse Spritze zu geben. Dann fuhr er nach Hause zurück, beschämt von der eigenen Schwäche, wäre am liebsten gestorben, verfluchte sich, weil ihm der Mut fehlte, Fermina Daza darum zu bitten, ihm die Hosen herunterzuziehen und ihn mit nacktem Hintern in ein glühendes Kohlebecken zu setzen. Er aß nicht zu Abend, betete ohne Überzeugung, gab vor, im Bett seine Siestalektüre fortzusetzen, während seine Frau eine Runde um die andere durch das Haus machte und die Welt in Ordnung brachte, bevor sie zu Bett ging. Während ihm der Kopf aufs Buch fiel, tauchte er allmählich ein in das unausweichliche Mangrovendickicht der Barbara Lynch, in ihren Dunst eines ruhenden Waldes, in ihr Bett, um darin zu vergehen, und konnte dann an nichts anderes mehr denken als an den kommenden Nachmittag, fünf Minuten vor fünf, sie erwartete ihn auf dem Bett mit nichts als diesem dunklen Buschwerk unter ihrem Rock einer lebenslustigen Jamaikanerin: ein Teufelskreis.
Seit ein paar Jahren schon wurde ihm die Schwere seines Körpers zunehmend bewußt. Er erkannte die Symptome. Er hatte in Abhandlungen darüber gelesen, hatte sie im wirklichen Leben bei älteren Patienten bestätigt gesehen, die plötzlich ohne ernstlichen Krankheitsbefund anfingen, perfekte Syndrome wie nach dem Lehrbuch zu beschreiben, die sich dennoch als Einbildungen erwiesen. Sein Lehrer für Kinderheilkunde in La Salpetriere hatte ihm als ehrlichste Fachrichtung die Pädiatrie empfohlen, weil Kinder nur erkranken, wenn ihnen tatsächlich etwas fehlt, und weil sie sich dem Arzt nicht mit überkommenen Aussagen mitteilen, sondern durch konkrete Symptome realer Krankheiten. Die Erwachsenen hingegen haben von einem gewissen Alter an entweder Symptome ohne die dazugehörigen Krankheiten oder etwas noch Schlimmeres: schwere Krankheiten mit den Symptomen von harmlosen. Er hielt sie mit Palliativa hin und ließ der Zeit Zeit, bis sie sich in der Abfallgrube des Alters daran gewöhnt hatten, mit ihren Gebrechen zu leben, und diese dann nicht mehr spürten. Doktor Juvenal Urbino wäre jedoch nie auf den Gedanken gekommen, daß ein Arzt in seinem Alter, der glaubte, alles gesehen zu haben, nicht mit der Unruhe fertig werden könnte, sich krank zu fühlen, ohne es wirklich zu sein. Oder schlimmer noch: aus reinem wissenschaftlichen Vorurteil nicht an eine Krankheit zu glauben, obwohl er womöglich krank war. Schon mit vierzig hatte er, halb im Ernst, halb scherzhaft vom Katheder aus verkündet: »Alles, was ich im Leben brauche, ist jemand, der mich versteht.« Als er sich jedoch im Labyrinth der Señorita Lynch verloren hatte, war das kein Scherz mehr für ihn. All die echten oder eingebildeten Symptome seiner älteren Patienten traten gesammelt in seinem Körper auf. Er spürte derart genau seine Leber, daß er ihre Größe hätte angeben können, ohne sie erst abzutasten. Er spürte, daß seine Nieren schnurrten wie eine schlafende Katze, nahm den changierenden Glanz seiner Blase wahr und das Summen des Bluts in den Arterien. Manchmal wachte er vom Luftmangel auf wie ein Fisch auf dem Trockenen. Er hatte Wasser im Herzen. Er spürte, wie dieses einen Augenblick lang aus den Takt geriet, spürte, daß es um einen Schlag nachhinkte, wie bei den Militärmärschen in der Schule, eins und, eins und, und schließlich spürte er dann, wie es sich erholte, denn Gott ist groß.
Doch statt auf eben die Ablenkungsmittel zurückzugreifen, die er seinen Kranken empfahl, war er starr vor Angst. Es stimmte: Das einzige, was er, auch noch mit achtundfünfzig Jahren, im Leben brauchte, war jemand, der ihn verstand. So wandte er sich Fermina Daza zu, dem Wesen, das ihn am meisten liebte und das er am meisten auf dieser Welt liebte und bei der er sein Gewissen erleichtert hatte. Denn dazu war es gekommen, nachdem sie ihn bei seiner Nachmittagslektüre unterbrochen und ihn gebeten hatte, ihr in die Augen zu schauen, ein erster Hinweis dafür, daß der Teufelskreis, in dem er sich bewegte, entdeckt worden war. Wie das geschehen war, begriff er allerdings nicht, denn wie hätte er auch auf den Gedanken kommen können, daß Fermina Daza die Wahrheit schlicht und einfach gerochen hatte. Auf jeden Fall war dies nicht die rechte Stadt für
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