Die Liebe in den Zeiten der Cholera
erschöpfenden Aussprache vereinbart, bei der beschlossen worden war, daß Fermina Daza auf die Hacienda der Kusine Hildebranda bei Flores de Maria fahren sollte, um dort alles mit reichlich Zeit zu überdenken, bevor sie eine endgültige Entscheidung traf. Die Kinder nahmen an, es sei die Reise, die schon oft verschoben worden war und die sie sich selbst seit geraumer Zeit gewünscht hatten. Doktor Urbino richtete es so ein, daß niemand in seiner perfiden kleinen Welt böswillige Vermutungen anstellen konnte, und das gelang ihm so gut, daß Florentino Ariza nur deshalb keine Hinweise auf Fermina Dazas Verschwinden fand, weil es keine gab und nicht weil ihm die Möglichkeiten zur Nachforschung gefehlt hätten. Der Ehemann zweifelte nicht daran, daß sie, sobald ihr Zorn verraucht war, heimkehren würde. Sie aber ging in der Gewißheit, daß ihr Zorn nie vergehen würde. Sie sollte jedoch bald einsehen, daß diese übertriebene Entschiedenheit nicht so sehr eine Folge der Verbitterung als der Sehnsucht gewesen war. Nach der Hochzeitsreise war sie, trotz der zehntägigen Seereise, noch mehrmals nach Europa gefahren und hatte immer genug Zeit gehabt, glücklich zu sein. Sie kannte die Welt, sie hatte gelernt, anders zu leben und zu denken, war jedoch nach der gescheiterten Ballonfahrt nie wieder in San Juan de la Ciénaga gewesen. Für sie hatte die Rückkehr in die Provinz der Kusine Hildebranda etwas von einer - wenn auch späten - Erlösung. Sie bezog das nicht auf ihr eheliches Mißgeschick, sondern auf lang Zurückliegendes. So tröstete sie in ihrem Unglück schon der Gedanke, für sich die Orte zurückzugewinnen, wo sie als Mädchen gewesen war. Als sie mit ihrer Pflegetochter in San Juan de la Ciénaga das Schiff verließ, mobilisierte sie alle Reserven ihres Charakters und erkannte die Stadt an, allen Warnungen zum Trotz. Der Ortskommandant für zivile und militärische Belange, dem sie anempfohlen worden war, bat sie zu sich in die offizielle Kutsche, bevor ihr Zug nach San Pedro Alejandrino abfuhr. Dort wollte sie überprüfen, was sie gehört hatte, daß nämlich das Bett, in dem Bolivar gestorben war, so klein war wie das eines Kindes. Zunächst aber sah Fermina Daza ihr großes Dorf erneut in der Zwei-Uhr-mittags-Erstarrung daliegen. Sie sah die Straßen wieder, die mit ihren Pfützen voll grüner Wasserschlieren eher Sandbänken glichen, und sie sah die Häuser der Portugiesen mit den in Stein gemeißelten Wappen am Portikus und den Messingjalousien vor den Fenstern, hinter denen in schattigen Salons die gleichen stockenden und melancholischen Klavieretüden, die ihre frischverheiratete Mutter den Mädchen aus reichem Hause beigebracht hatte, erbarmungslos wieder und wieder geübt wurden. Sie sah die verlassene Plaza baumlos in der Kalkglut, die Reihe der Droschken mit den trauerschwarzen Verdecken und den im Stehen schlafenden Pferden, den gelben Zug nach San Pedro Alejandrino, und an der Ecke der Hauptkirche sah sie das größte und auch das schönste Haus, mit einem Arkadengang aus bemoostem Stein und einem Klosterportal, und sie sah das Fenster des Zimmers, in dem viele Jahre später, wenn sie schon kein Gedächtnis mehr haben würde, um sich seiner zu erinnern, Alvaro geboren werden sollte. Sie dachte an Tante Escolástica, nach der sie noch immer allerorten ohne Hoffnung suchte, und ertappte sich dabei, auch an Florentino Ariza und die Mandelbäume des kleinen Platzes, an seinen Literatenanzug und den Band mit Versen zu denken; das passierte ihr nur selten und dann auch nur, wenn sie sich ihrer unliebsamen Schuljahre erinnerte. Sie hatte trotz mehrerer Runden das einstige Haus der Familie nicht finden können, denn dort, wo sie es vermutete, war nichts außer einer Schweinezucht, und um die Ecke lag die Straße der Bordelle mit Huren aus aller Welt, die ihre Siesta in den Hauseingängen hielten für den Fall, daß die Post etwas für sie brächte. Das war nicht ihr Städtchen.
Gleich zu Beginn der Spazierfahrt hatte sich Fermina Daza das Gesicht halb mit dem Schleier bedeckt, nicht aus Angst, dort erkannt zu werden, wo niemand sie erkennen konnte, sondern wegen des Anblicks der Toten, die vom Bahnhof bis zum Friedhof überall aufgedunsen in der Sonne lagen. Der Ortskommandant sagte: »Das ist die Cholera.« Sie wußte es, denn sie hatte die weißen Krumen an den Mündern der verdorrenden Leichen gesehen, stellte jedoch fest, daß keine, wie zur Zeit der Ballonfahrt, einen Genickschuß aufwies.
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