Die Liebe in den Zeiten der Cholera
immerhin, daß sie sie gesehen hatte, wußte, wer sie waren, und sie daher auch nicht vorgestellt werden mußten. Leona Cassiani erwiderte das Lächeln mit der Anmut der Mulattin. Florentino Ariza hingegen wußte nicht, wie er sich verhalten sollte, denn Fermina Dazas Anblick machte ihn sprachlos. Sie war eine andere. In ihrem Gesicht war kein Anzeichen für die schreckliche Modekrankheit oder sonst ein Leiden zu entdecken, und ihr Körper hatte noch das Gewicht und die Grazie ihrer besten Jahre, doch ganz offensichtlich hatten ihr die letzten beiden Jahre so hart zugesetzt wie zehn schlecht gelebte. Das kurze Haar mit dem Flügelschwung auf der Wange stand ihr gut, hatte aber nicht mehr die Farbe von Honig, sondern von Aluminium, und die schönen blattförmigen Augen hatten hinter den Großmuttergläsern die Leuchtkraft eines halben Lebens verloren. Florentino Ariza sah, wie sie sich am Arm des Gatten inmitten der aus dem Kino strömenden Menge entfernte, und wunderte sich darüber, daß sie sich mit einem ärmlichen Schultertuch und Hausschuhen in der Öffentlichkeit sehen ließ. Am stärksten erschütterte ihn jedoch, daß ihr Mann sie am Arm führen mußte, um sie wohlbehalten zum Ausgang zu bringen, und daß sie dennoch die Höhe der Schwelle falsch einschätzte und an der Türstufe beinahe gestürzt wäre. Florentino Ariza hatte ein feines Gespür für solche Stolpersteine des Alters. Schon in seiner Jugend hatte er in den Parks von seinen Gedichtbänden aufgeschaut, um greise Ehepaare zu beobachten, wenn sie einander beim Überqueren der Straße halfen, und das waren Lehren fürs Leben gewesen, die ihm erlaubten, die Gesetze seines eigenen Alterns zu erahnen. In der Lebensphase, in der sich Doktor Juvenal Urbino an jenem Abend im Kino befand, pflegten die Männer in einer Art herbstlicher Jugend aufzublühen, die ersten grauen Haare gaben ihnen eine neue Würde, sie wirkten geistreich und verführerisch, besonders auf junge Frauen, während ihre angetrauten Frauen sich verwelkt auf ihren Arm stützen mußten, um nicht noch über den eigenen Schatten zu stolpern. Ein paar Jahre später aber stürzten dann die Ehemänner plötzlich in den Abgrund eines infamen körperlichen und geistigen Verfalls, und dann waren es ihre wieder zu Kräften gekommenen Frauen, die sie wie arme Blinde am Arm führen mußten und ihnen, um ihren Mannesstolz nicht zu verletzen, ins Ohr flüsterten, gut aufpassen, da kämen nicht zwei, sondern drei Stufen, da sei eine Pfütze mitten auf der Straße, das Bündel, das dort quer auf dem Gehsteig liege, sei ein toter Bettler, und die sie, als sei dies die einzige Furt im letzten Fluß des Lebens, mühselig über die Straße lotsten. Florentino Ariza hatte sich so oft in diesem Spiegel gesehen, daß seine Angst vor dem Tod nie größer gewesen war als die vor jenem infamen Alter, da er auf den Arm einer Frau angewiesen sein würde. Er wußte, daß er an jenem Tag, aber auch keinen Tag früher, die Hoffnung auf Fermina Daza würde aufgeben müssen.
Die Begegnung raubte ihm den Schlaf. Statt Leona Cassiani im Wagen heimzufahren, geleitete er sie zu Fuß durch die Altstadt, wo ihre Schritte wie Hufeisen auf dem Pflaster hallten. Zuweilen drangen Wortfetzen über die offenen Balkone, Schlafzimmergeflüster, Liebesschluchzer, die durch die gespenstische Akustik in den verschlafenen Gäßchen und den heißen Duft des Jasmins noch verstärkt wurden. Wieder einmal mußte Florentino Ariza seine ganze Kraft aufbieten, um Leona Cassiani nicht seine unterdrückte Liebe zu Fermina Daza zu entdecken. Sie gingen Seite an Seite mit aufeinander abgestimmten Schritten, hatten einander in aller Gelassenheit wie ein altes Liebespaar gern, während sie an die gelungenen Szenen von Cabiria und er an sein eigenes Mißgeschick dachte. Auf einem Balkon an der Plaza de la Aduana sang ein Mann, und sein Lied hallte im Umkreis wider, ein Kanon aus verketteten Echos: Und ich kreuzte durch gewaltige Wogen die See. In der Straße Santos de Piedra, als er sich vor Leona Cassianis Haus von ihr hätte verabschieden müssen, bat er sie darum, ihn zu einem Brandy einzuladen. Es war das zweite Mal, daß er unter ähnlichen Umständen darum bat. Beim ersten Mal vor zehn Jahren hatte sie ihm geantwortet: »Wenn du so spät mit raufkommst, mußt du für immer bleiben.« Er war nicht hinaufgegangen. Jetzt wäre er jedoch so oder so mitgegangen, selbst wenn er später sein Wort hätte brechen müssen. Leona Cassiani bat ihn aber
Weitere Kostenlose Bücher