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Die Liebe in den Zeiten der Cholera

Die Liebe in den Zeiten der Cholera

Titel: Die Liebe in den Zeiten der Cholera Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel García Márquez
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Abenddämmerung. Er dachte, daß jeder einzelne der vielen Augenblicke des Tages, die früher seine Bundesgenossen, ja seine eingeschworenen Komplizen gewesen waren, sich nun gegen ihn zu verschwören begann. Vor wenigen Jahren hatte er sich einmal mit dem Herzen voller Angst vor der Macht des Zufalls zu einem gewagten Stelldichein begeben, hatte eine unverriegelte Tür mit frischgeölten Scharnieren vorgefunden, damit er geräuschlos eintreten konnte, und war dennoch im letzten Augenblick zurückgeschreckt, aus Furcht, einer fremden, entgegenkommenden Frau womöglich den nicht mehr behebbaren Schaden zuzufügen, in ihrem Bett zu sterben. Also war der Gedanke nicht aus der Luft gegriffen, daß die auf dieser Erde am meisten geliebte Frau, auf die er von einem bis ins nächste Jahrhundert hinein ohne einen Seufzer der Ernüchterung gewartet hatte, gerade nur noch genug Zeit haben könnte, ihn am Arm über eine Straße von Grabhügeln und windzerzausten Mohnbeeten sicher und wohlbehalten zum anderen Gehsteig, dem des Todes, zu geleiten. Tatsächlich war Florentino Ariza für die Begriffe seiner Zeit an den Schranken des Alters gnädig vorbeigekommen. Er war gute sechsundfünfzig Jahre alt, gut gelebte zudem, wie er meinte, waren es doch Jahre der Liebe gewesen. Aber kein Mann dieser Epoche hätte sich der Lächerlichkeit, in seinem Alter jung erscheinen zu wollen, ausgesetzt, selbst wenn er es wirklich war oder sich so fühlte, und nicht alle hätten den Mut aufgebracht, ohne Scham einzugestehen, immer noch wegen einer Kränkung aus dem vergangenen Jahrhundert heimlich zu weinen. Es war keine gute Zeit, um jung zu sein. Für jeden Lebensabschnitt gab es eine Kleiderordnung, die für das Alter aber galt von den Jünglingsjahren bis zum Grab. Es war weniger eine Frage der Jahre als der gesellschaftlichen Würde. Die jungen Leute zogen sich wie ihre Großväter an, bemühten sich mit verfrühten Brillen um Respekt, und der Gehstock war ab dreißig gang und gäbe. Für die Frauen gab es nur zwei Altersstufen: das heiratsfähige Alter, das höchstens bis zum zweiundzwanzigsten Lebensjahr ging, und das Alter der ewigen Jungfern für die Sitzengebliebenen. Die übrigen, die Ehefrauen, die Mütter, die Witwen und die Großmütter, gehörten einer anderen Spezies an, sie berechneten ihr Alter nicht nach den gelebten, sondern nach den bis zum Tod noch zu lebenden Jahren. Florentino Ariza hingegen stellte sich den Tücken des Alters mit grimmigem Wagemut, obgleich er wußte, daß er das eigentümliche Glück hatte, schon von Kindesbeinen an alt auszusehen. Zunächst war das ein Gebot der Not gewesen. Tránsite Ariza trennte die Anzüge auf, die sein Vater wegwerfen wollte, und änderte sie für den Sohn um, so daß dieser die Primarschule in Gehröcken besuchte, die am Boden schleiften, wenn er sich setzte. Dazu trug er ehrwürdige Hüte, die ihm über die Ohren rutschten, obwohl sie mit eingelegten Wattepolstern verkleinert worden waren. Da er außerdem seit dem fünften Lebensjahr die Brille des Kurzsichtigen trug und von der Mutter das Indiohaar geerbt hatte, steif und dick wie Roßhaar, war er von seiner Erscheinung her nur schwer einzuordnen. Glücklicherweise waren die Aufnahmebedingungen der Schulen nach so vielen Regierungswirren in so vielen sich überschneidenden Bürgerkriegen weniger selektiv als zuvor, so daß in den öffentlichen Schulen Kinder von unterschiedlicher Herkunft und sozialem Status zusammengewürfelt saßen. Knaben, die noch im Wachsen begriffen waren, kamen vom Pulver der Barrikaden stinkend in den Unterricht, sie trugen die Rangabzeichen und die Uniformen aufständischer Offiziere, mit Blei in fragwürdigen Schlachten erkämpft, und gut sichtbar im Gürtel die Dienstwaffen. Sie schössen sich bei jedem Streit während der Pausen, bedrohten die Lehrer, wenn sie bei Prüfungen schlechte Noten bekamen, und einer von ihnen, ein Drittkläßler aus dem Colegio La Salle und Oberst der Miliz im Ruhestand, tötete Frater Juan Ermita, den Präfekten des Klosters, mit einem Schuß, weil dieser in der Katechismusstunde geäußert hatte, der liebe Gott sei eingetragenes Mitglied der Konservativen Partei.
    Die Söhne der heruntergekommenen großen Familien erschienen hingegen wie altertümliche Prinzen gekleidet zum Unterricht, und ein paar ganz Arme kamen barfuß. Zwischen so vielen sonderlichen Schülern von allenthalben gehörte Florentino Ariza jedenfalls zu den Sonderlichsten, fiel aber nun wieder auch nicht

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