Die Liebe in den Zeiten der Cholera
Lotionen beibehielt und daß er sich immer noch so geheimnisvoll gab, nachdem er im Leben auf so spektakuläre und zudem ehrenhafte Weise seinen Weg gemacht hatte. Sie mochte nicht glauben, daß es dieselbe Person war, und wunderte sich stets, wenn Hildebranda seufzte: »Der arme Mann, was muß er gelitten haben!« Schon seit langer Zeit sah sie ihn ohne Kummer: Er war ein ausgelöschter Schatten. An dem Abend jedoch, als sie ihn im Kino traf, kurz nachdem sie aus Flores de María zurückgekehrt war, ging in ihrem Herzen etwas Seltsames vor sich. Sie war nicht überrascht, ihn mit einer Frau, noch dazu einer Schwarzen, zu sehen. Aber es überraschte sie, daß er sich so gut gehalten hatte und daß er sich viel ungezwungener bewegte, und ihr kam überhaupt nicht der Gedanke, daß vielleicht nicht er, sondern sie sich nach Señorita Lynchs bedrohlichem Einbruch in ihr Privatleben verändert hatte. Seitdem hatte sie ihn über zwanzig Jahre lang mit einem milderen Blick gesehen. In der Nacht der Totenwache für ihren Mann war ihr seine Anwesenheit nicht nur verständlich erschienen, sie hatte sie auch als Zeichen für ein natürliches Ende der Verbitterung gesehen: eine Geste des Verzeihens und Vergessens. Deshalb traf sie die dramatische Beteuerung einer Liebe, die es für sie nie gegeben hatte, so unvorbereitet, und das in einem Alter, in dem sie und Florentino Ariza nichts mehr vom Leben zu erwarten hatten.
Die tödliche Wut des ersten Zusammenstoßes verlor sich auch nach der symbolischen Einäscherung des Ehemanns nicht, sie wuchs und verzweigte sich immer mehr, je weniger Fermina Daza sich im Stande fühlte, sie zu beherrschen. Es kam noch schlimmer: Das Mohnfeld, in dem die Erinnerungen an Florentino Ariza begraben lagen, breitete sich allmählich und unerbittlich bis in die Räume des Gedächtnisses aus, in denen sie die Erinnerungen an den Toten hatte beschwichtigen können. So dachte sie an Florentino Ariza, ohne ihn zu lieben, und je mehr sie an ihn dachte, desto wütender wurde sie auf ihn, und je wütender sie wurde, desto mehr dachte sie an ihn, bis das alles so unerträglich geworden war, daß es ihr den Verstand raubte. Da setzte sie sich an den Schreibtisch ihres Mannes und schrieb Florentino Ariza einen Brief, drei irrationale Seiten, die vor Beleidigungen und infamen Unterstellungen strotzten, womit sie sich die Erleichterung verschaffte, ganz bewußt die unwürdigste Handlung in ihrem langen Leben begangen zu haben. Auch für Florentino Ariza waren es drei Wochen der Agonie gewesen. In der Nacht, in der er Fennina Daza erneut seine Liebe beteuert hatte, war er ziellos durch die von der nachmittäglichen Sintflut verwüsteten Straßen geirrt und hatte sich voller Entsetzen gefragt, was er mit der Haut des Tigers anfangen sollte, der ihm ein halbes Jahrhundert lang aufgelauert hatte und den er nun erlegt hatte. In der Stadt herrschte wegen der Gewalt der Wassermassen der Ausnahmezustand. In einigen Häusern versuchten halbnackte Männer und Frauen, das, was Gott erlaubte, aus der Sintflut zu retten, und Florentino Ariza war es, als habe ihr aller Unglück etwas mit dem seinen zu tun. Doch die Luft war zahm, und die Sterne der Karibik standen ruhig an ihrem Platz. Plötzlich, als all die anderen Stimmen kurz schwiegen, erkannte Florentino Ariza die Stimme des Mannes, den er zusammen mit Leona Cassiani vor vielen Jahren zur gleichen Stunde und an der gleichen Straßenecke hatte singen hören: In Tränen gebadet, wandt' ich mich von der Brücke ab. Ein Lied, das auf irgendeine Weise und nur für ihn in jener Nacht etwas mit dem Tod zu tun gehabt hatte. Nie hatte ihm Tránsite Ariza mit ihren klugen Worten und ihrem papierblumengeschmückten Haupt einer Karnevalskönigin so sehr gefehlt. Er konnte nicht dagegen an: Am Rande der Katastrophe brauchte er stets den Schutz einer Frau. Also lief er auf der Suche nach einer, die für ihn erreichbar war, zum Lehrerseminar und sah in der langen Fensterreihe von América Vicuñas Schlafsaal ein Licht brennen. Er mußte sich sehr zusammennehmen, daß er nicht die Greisentorheit beging, sie um zwei Uhr morgens herauszuholen, noch schlafwarm in ihren Windeln und duftend wie ein plärrendes Wickelkind.
Leona Cassiani wohnte allein und ungebunden am anderen Ende der Stadt und hätte ihm zweifellos auch um zwei Uhr morgens, um drei, zu jeder Stunde und in jeder Situation das Mitgefühl angedeihen lassen, das ihm fehlte. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, daß er in
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