Die Liebe in den Zeiten der Cholera
weniger allein zu fühlen. Dem Bett gegenüber hing der große Spiegel aus dem Restaurant von Don Sancho, den er nur anzusehen brauchte, um Fermina Dazas Spiegelbild darin zu entdecken. Er wußte, es war Sonnabend, weil der Chauffeur an diesem Tag América Vicuña vom Internat abholte und zu ihm nach Hause brachte. Ihm wurde klar, daß er geschlafen hatte, ohne es zu merken, dabei geträumt hatte, nicht schlafen zu können, in einem Traum, der von Fermina Dazas zornigem Gesicht überschattet war. Er nahm ein Bad und dachte über den nächsten Schritt nach, zog sich bedächtig seine besten Kleider an, parfümierte sich, wichste den weißen Schnurrbart mit den gezwirbelten Spitzen, und als er aus dem Schlafzimmer trat, sah er von der Galerie des oberen Stockwerks aus das schöne Geschöpf in Schuluniform, das den Ball mit einer Anmut aus der Luft auffing, die ihn an vielen Sonntagen erschüttert hatte, ihn an diesem Morgen jedoch kein bißchen verwirrte. Er bedeutete ihr, mitzukommen, und bevor sie ins Auto stiegen, sagte er ohne Notwendigkeit zu ihr: »Heute gibt es keine Spielchen.« Er fuhr sie zur amerikanischen Eisdiele, die zu dieser Zeit von Eltern überfüllt war, die mit ihren Kindern unter den großflügeligen Deckenventilatoren Eis aßen. América Vicuña bestellte ihr Lieblingseis, einen riesigen Becher mit mehreren verschiedenfarbigen Schichten, der wegen der magischen Dampfwolke, die davon aufstieg, am häufigsten bestellt wurde. Florentino Ariza trank einen schwarzen Kaffee und sah dem schweigenden Mädchen zu, das sein Eis mit einem bis zum Grund des Bechers reichenden langstieligen Löffel aß. Ohne den Blick von ihr abzuwenden, sagte er plötzlich: »Ich werde heiraten.« Sie schaute ihn an, einen Funken Unsicherheit in den Augen, hielt den Löffel einen Augenblick still in der Luft, faßte sich jedoch gleich wieder und lächelte. »Du schwindelst«, sagte sie, »alte Leutchen heiraten nicht.« An diesem Abend setzte er sie während eines hartnäckigen Regenschauers pünktlich zum Angelus vor dem Internat ab, nachdem sie sich zusammen das Puppenspiel im Park angesehen hatten, an den Bratfischständen am Meer gegessen, sich die Käfige mit den wilden Tieren eines soeben eingetroffenen Zirkus angeschaut und an den Portalen allerlei Süßigkeiten fürs Internat gekauft hatten und dann noch mehrmals mit offenem Verdeck durch die Stadt gefahren waren, damit América Vicuña sich an den Gedanken gewöhnte, daß er ihr Betreuer und nicht mehr ihr Liebhaber war. Am Sonntag schickte er ihr den Wagen, für den Fall, daß sie mit ihren Freundinnen ausfahren wollte, er selbst aber mochte sie nicht sehen, weil ihm seit der vergangenen Woche der Altersunterschied erst so richtig bewußt geworden war. An diesem Abend faßte er den Entschluß, Fermina Daza einen Entschuldigungsbrief zu schreiben, und sei es nur, um nicht zu kapitulieren, doch er verschob es auf den nächsten Tag. Am Montag, nach exakt drei Leidenswochen, betrat er vom Regen durchweicht sein Haus und fand dort ihren Brief. Es war acht Uhr abends. Die beiden Dienstmädchen waren zu Bett gegangen und hatten im Gang wie immer ein Licht angelassen, damit Florentino Ariza bis zu seinem Zimmer kommen konnte. Er wußte, daß sein karges und fades Abendessen auf dem Eßzimmertisch stand, doch das bißchen Hunger, das er noch verspürte, nachdem er so viele Tage kaum gegessen hatte, verging ihm bei der Aufregung über den Brief. Seine Hände zitterten so sehr, daß er das Hauptlicht im Schlafzimmer kaum anmachen konnte. Er legte den nassen Brief auf das Bett, zündete die Nachttischlampe an und zog mit künstlicher Ruhe - sein ureigenes Hilfsmittel, um Fassung zu gewinnen - die Jacke aus, hängte sie über die Stuhllehne, zog die Weste aus und legte sie ordentlich gefaltet auf die Jacke, nahm die schwarze Seidenschleife und den Zelluloidkragen ab, der schon aus der Mode gekommen war, knöpfte das Hemd bis zur Taille auf und löste den Gürtel, um besser durchatmen zu können, zuletzt nahm er den Hut ab und legte ihn zum Trocknen ans Fenster. Plötzlich durchfuhr ihn ein Schauer, er wußte nicht, wo der Brief geblieben war, und wurde derart nervös, daß es ihn erstaunte, als er ihn doch noch fand, denn er konnte sich nicht daran erinnern, ihn aufs Bett gelegt zu haben. Bevor er ihn öffnete, trocknete er den Umschlag vorsichtig mit dem Taschentuch ab, um nicht die Tinte zu verwischen, mit der sein Name geschrieben war, und während er das tat, wurde ihm klar,
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