Die Liebe in den Zeiten der Cholera
der Ödnis seiner Schlaflosigkeit an ihrer Tür geklopft hätte, doch er sah ein, daß sie zu intelligent war und sie beide sich auch zu sehr liebten, als daß er sich auf ihrem Schoß hätte ausweinen können, ohne ihr den Grund zu offenbaren. Während er somnambul durch die leere Stadt wanderte, kam ihm der Gedanke, daß er bei keiner besser aufgehoben sein würde als bei der Doppelwitwe Prudencia Pitre. Sie war zehn Jahre jünger als er. Sie hatten sich im vergangenen Jahrhundert kennengelernt und trafen sich nur deshalb nicht mehr, weil sie sich nicht länger so sehen lassen wollte, wie sie war, halb blind und wahrhaft hinfällig. Die Erinnerung an sie war ihm kaum in den Sinn gekommen, als Florentino Ariza auch schon zur Calle de las Ventanas zurückging, zwei Flaschen Portwein und ein Glas Essiggemüse in eine Einkaufstasche packte und sich auf den Weg zu ihr machte, ohne auch nur zu wissen, ob sie noch im selben Haus wohnte, ob sie allein und überhaupt noch am Leben war.
Prudencia Pitre hatte die heimlichen Kratzzeichen an der Tür nicht vergessen, mit denen er sich damals, als sie sich noch jung fühlten, obgleich sie es schon nicht mehr waren, zu erkennen gegeben hatte, und sie öffnete ihm, ohne Fragen zu stellen. Die Straße lag im Dunkeln, und er war kaum sichtbar in seinem schwarzen Tuchanzug, dem steifen Hut und dem Fledermausschirm, der an seinem Arm hing, und mit ihren Augen hätte sie ihn nur bei vollem Licht sehen können, dennoch erkannte sie ihn an den Lichtreflexen des Laternenlichts im Metall seines Brillengestells. Er sah aus wie ein Mörder, der noch Blut an den Händen hat.
»Asyl für ein armes Waisenkind«, war alles, was ihm, nur um etwas zu sagen, einfiel. Er war überrascht, wie sehr sie gealtert war, seitdem er sie zum letzten Mal gesehen hatte, und ihm war bewußt, daß auch sie ihn so sah. Doch er tröstete sich mit dem Gedanken, daß ihnen ein wenig später, wenn beide sich vom ersten Schlag erholt hätten, die Wunden des Lebens weniger auffallen und sie sich dann wieder so sehen würden, wie sie füreinander gewesen waren, als sie sich kennengelernt hatten: vor vierzig Jahren. »Du siehst nach Begräbnis aus«, sagte sie. So war es. Auch sie hatte wie fast die ganze Stadt seit elf Uhr am Fenster gestanden, um den längsten und pompösesten Trauerzug vorbeiziehen zu sehen, den es seit dem Tod des Erzbischofs De Luna in der Stadt gegeben hatte. Sie war von Artilleriedonner, der die Erde erbeben ließ, aus der Siesta geweckt worden, hatte den Mißklang der Militärkapellen gehört, das Durcheinander der Trauergesänge, die sich über den Lärm der seit dem vergangenen Tag pausenlos läutenden Kirchenglocken erhoben. Vom Balkon aus hatte sie die berittenen Soldaten in Paradeuniform gesehen, die religiösen Kongregationen, die Schulklassen, die langen schwarzen Limousinen der unsichtbaren Obrigkeit, die von Pferden mit Federbüschen und goldenen Schabracken gezogenen Karossen, den gelben, von der Fahne bedeckten Sarg auf der Lafette einer historischen Kanone und zum Schluß die lange Reihe der alten offenen Kutschen, die für den Transport von Totenkränzen instand gehalten wurden. Sie waren kaum kurz nach Mittag an Prudencia Pitres Balkon vorbeigezogen, als die Sintflut hereinbrach und der Trauerzug sich fluchtartig auflöste.
»Was für eine absurde Art zu sterben«, sagte sie. »Der Tod hat keinen Sinn für das Lächerliche«, sagte er und fügte betrübt hinzu: »Schon gar nicht in unserem Alter.« Sie saßen auf der Terrasse mit Blick auf das offene Meer, sahen den Mond, der mit seinem Hof den halben Himmel füllte, sahen die bunten Lichter der Schiffe am Horizont und genossen die lau duftende Brise nach dem Gewitter. Sie aßen Essiggemüse auf Brotscheiben, die Prudencia Pitre in der Küche von einem Laib abschnitt. Seitdem sie im Alter von fünfunddreißig Jahren kinderlos Witwe geworden war, hatten sie viele solche Nächte zusammen verlebt. Florentino Ariza war ihr zu einer Zeit begegnet, da sie jeden Mann genommen hätte, der bereit gewesen wäre, ihr Gesellschaft zu leisten, und sei es stundenweise für Entgelt, dennoch war es ihnen gelungen, eine Beziehung aufzubauen, die sich als ernsthafter und beständiger erwies, als es damals möglich erschienen war.
Sie hätte, obwohl sie nie auch nur eine Andeutung darüber machte, dem Teufel ihre Seele verkauft, um mit ihm eine zweite Ehe einzugehen. Sie wußte, daß es nicht leicht war, sich ihm zu unterwerfen, mit seiner
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