Die Liebe in den Zeiten der Cholera
Kleinlichkeit, seinem albernen Gebaren eines vorzeitigen Greises, seiner manischen Ordnungsliebe, der Zwanghaftigkeit, mit der er alles forderte und nichts, aber auch nichts gab, aber dafür fand sich auch kein Mann, mit dem es sich besser Zusammensein ließ, denn auf der ganzen Welt war kein zweiter liebesbedürftiger als er. Sie kannte allerdings auch keinen, der so wenig zu fassen war, und daher ging die Liebe auch nicht weiter als sonst bei ihm: gerade so weit, daß sie nicht seinen Entschluß, für Fermina Daza frei zu bleiben, unterlief. Dennoch hielt diese Liebschaft viele Jahre, sogar dann noch, als er die Dinge dahingehend geregelt hatte, daß Prudencia Pitre wieder heiratete, und zwar einen Handelsvertreter, der drei Monate zu Hause und die nächsten drei auf Reisen war und dem sie eine Tochter und vier Söhne gebar, von denen einer wiederum, wie sie schwor, von Florentino Ariza war. Sie plauderten, ohne auf die Uhrzeit zu achten, denn beide waren als junge Leute daran gewöhnt gewesen, ihre Schlaflosigkeit zu teilen, und hatten nun im Alter noch weniger dabei zu verlieren. Obwohl er fast nie mehr als zwei Glas Wein trank, war Florentino Ariza auch nach dem dritten noch nicht wieder zu Atem gekommen. Er schwitzte in Strömen, und die Doppelwitwe sagte, er solle die Jacke ablegen, die Weste, die Hose oder alles, zum Teufel, wenn er wolle, schließlich und endlich würden sie sich besser nackt als bekleidet kennen. Er sagte, er wolle es tun, wenn sie es auch täte, aber sie wollte nicht: Es war schon lange her, daß sie vor dem Schrankspiegel eingesehen hatte, daß sie nie wieder den Mut aufbringen würde, sich vor ihm oder vor sonst jemandem nackt zu zeigen.
In einem Zustand der Überspanntheit, die er auch mit vier Gläsern Portwein nicht hatte dämpfen können, redete Florentino Ariza weiter von der guten alten Zeit, seit langem schon sein einziges Thema, suchte er doch in der Vergangenheit sehnsüchtig nach einem heimlichen Ansatz, um sich auszusprechen. Denn das hatte er nötig: jemandem das Herz auszuschütten. Als er am Horizont die ersten Strahlen sah, machte er einen verstohlenen Versuch. Scheinbar beiläufig fragte er: »Was würdest du tun, wenn dir jemand in deinem Alter, so wie du heute bist, einen Heiratsantrag machte?« Sie lachte das verknitterte Lachen einer alten Frau und fragte zurück: »Fragst du wegen der Witwe Urbino?«
Florentino Ariza vergaß immer, wenn er es gerade am wenigsten vergessen sollte, daß Frauen, und besonders Prudencia Pitre, mehr auf den verborgenen Sinn der Fragen als auf die Fragen selbst achten. Wegen ihrer beängstigenden Treffsicherheit überkam ihn plötzliche Panik, er stahl sich jedoch durch die Hintertür davon: »Ich sage es wegen dir.« Sie lachte wieder: »Mach du dich nur über deine Hurenmutter lustig, Friede ihrer Seele.« Dann drang sie in ihn, er solle doch sagen, was er habe sagen wollen, denn sie wußte, daß weder er noch sonst ein Mann sie nach so vielen Jahren um drei Uhr morgens geweckt hätte, nur um mit ihr Landbrot und Essiggemüse zu essen. Sie sagte: »So was tut man nur, wenn man jemanden sucht, mit dem man weinen kann.« Florentino Ariza trat den geordneten Rückzug an, »Dies eine Mal irrst du«, sagte er. »Heute nacht ist mir eher zum Singen zu Mute.« »Dann laß uns singen«, sagte sie.
Sie stimmte mit guter Singstimme den Schlager an, der gerade in Mode war: Ramona, ohne dich kann ich nicht sein. Das war das Ende der Nacht, denn er traute sich nicht, verbotene Spielchen mit einer Frau anzufangen, die ihm zu oft bewiesen hatte, daß sie die abgewandte Seite des Mondes kannte. Er trat in eine andere Stadt hinaus, die nach den letzten Juni-Dahlien duftete, und lief eine Straße seiner Jugend entlang, auf der die Witwen der Dunkelheit zur Fünf-Uhr-Messe zogen. Nicht sie, sondern er wechselte diesmal den Gehsteig, damit man nicht die Tränen sah, die er nun wirklich nicht länger zurückhalten konnte, nicht die Tränen um Mitternacht, es waren andere: Er hatte sie vor einundfünfzig Jahren, neun Monaten und vier Tagen heruntergeschluckt. Als er vor einem großen, blendenden Fenster erwachte, hatte er kein Gefühl mehr für die Zeit. Erst die Stimme von América Vicuña , die im Garten mit den Dienstmädchen Ball spielte, brachte ihn in die Wirklichkeit zurück: Er lag im Bett seiner Mutter, deren Zimmer er unverändert gelassen hatte; in den seltenen Fällen, wenn ihm die Einsamkeit zusetzte, legte er sich dort schlafen, um sich
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