Die Liebe in den Zeiten der Cholera
daß dieses Geheimnis nicht von zwei, sondern von drei Menschen geteilt wurde, denn wer auch immer den Brief gebracht hatte, ihm mußte aufgefallen sein, daß die Witwe Urbino kaum drei Wochen nach dem Tod ihres Mannes jemandem schrieb, der nicht zu ihren Kreisen gehörte, und das mit einer solchen Eile, daß sie den Brief nicht mit der Post schickte, ihn auch nicht aushändigen, sondern heimlich unter der Tür durchschieben ließ wie einen anonymen Brief. Er brauchte den Umschlag gar nicht erst aufzureißen, da die Nässe den Klebstoff gelöst hatte, der Brief aber war trockengeblieben: drei dichtbeschriebene Bogen, ohne Anrede und unterzeichnet mit den Namensinitialen der Verheirateten. Er saß auf dem Bett und überflog ihn einmal, weniger auf den Inhalt gespannt, als auf den Ton, und wußte, noch bevor er bei der zweiten Seite angelangt war, daß es genau der Schmähbrief war, den er erwartet hatte. Er legte ihn ins Licht der Nachttischlampe, zog die nassen Schuhe und Strümpfe aus, ging zur Tür, um das Deckenlicht zu löschen, zog zum Schluß die Bartbinde aus Wildleder an und legte sich dann, ohne erst Hemd und Hose auszuziehen, aufs Bett, den Kopf auf zwei großen Kissen, die ihm beim Lesen als Lehne dienten. Dann ging er den Brief durch, Buchstaben für Buchstaben, prüfte jeden von ihnen, damit keine verborgene Absicht unergründet blieb, und las den Brief dann noch viermal, bis er so erfüllt davon war, daß die geschriebenen Worte ihren Sinn zu verlieren begannen. Zuletzt verwahrte er die Blätter ohne Umschlag in der Nachttischschublade, legte sich, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, auf den Rücken und blieb so vier Stunden lang liegen, den Blick starr auf den Raum im Spiegel gerichtet, den sie einst ausgefüllt hatte, er blinzelte nicht, atmete kaum, war toter als ein Toter. Punkt Mitternacht ging er in die Küche und machte sich eine Thermoskanne mit starkem Kaffee, dickflüssig wie Rohöl, nahm sie mit aufs Zimmer, legte das Gebiß in das Glas Borwasser, das ihm dafür immer auf den Nachttisch gestellt wurde, und nahm wieder die Stellung einer ruhenden Marmorfigur ein, die er nur in gewissen Abständen, wenn er einen Schluck Kaffee trank, kurz änderte, bis dann um sechs Uhr das Zimmermädchen mit einer neu gefüllten Thermoskanne hereinkam.
Zu dieser Stunde kannte Florentino Ariza jeden seiner weiteren Schritte. In Wahrheit taten ihm die Beleidigungen nicht weh, und es war ihm auch nicht wichtig, die ungerechten Unterstellungen zurückzuweisen, die ja auch noch schlimmer hätten ausfallen können, wenn man Fermina Dazas Charakter und den schwerwiegenden Grund in Betracht zog. Ihn interessierte allein, daß ihm der Brief Gelegenheit und Recht zu einer Antwort gab. Mehr noch, er forderte sogar eine. Also war das Leben jetzt bis zu der Grenze gelangt, wo er es haben wollte. Alles übrige hing von ihm ab, er war zwar davon überzeugt, daß seine ein halbes Jahrhundert alte persönliche Hölle noch viele lebensgefährliche Prüfungen für ihn bereithielt, doch wollte er diese mit noch größerer Glut, größerem Schmerz und größerer Liebe auf sich nehmen, da es die letzten sein würden.
Fünf Tage nachdem er Fermina Dazas Brief erhalten hatte, war ihm bei seiner Ankunft im Büro auf einmal, als schwebe er in einer abrupten und ungewohnten akustischen Leere, denn das Regengeprassel der Schreibmaschinen fiel schon weniger auf als ihr Schweigen. Es war Pause. Als der Lärm wieder einsetzte, schaute Florentino Ariza in Leona Cassianis Büro und betrachtete sie, wie sie vor ihrer eigenen Maschine saß, die wie ein menschliches Instrument ihren Fingerkuppen gehorchte. Sie fühlte sich beobachtet und sah mit ihrem schrecklichen Sonnenlächeln zur Tür, hörte jedoch erst am Ende des Absatzes zu schreiben auf.
»Sag mir eins, Löwin meiner Seele«, fragte Florentino Ariza sie, »was würdest du empfinden, wenn du einen Liebesbrief bekämst, der mit so einem Apparat geschrieben wäre?« Sie, die nichts mehr überraschen konnte, machte eine wahrhaft überraschte Gebärde.
»Mann!« rief sie aus, »auf die Idee bin ich noch nie gekommen.«
Also wußte sie keine Antwort darauf. Auch Florentino Ariza dachte zum ersten Mal daran und beschloß, das ganze Risiko einzugehen. Unter dem freundlichen Spott der Untergebenen: »Alter Papagei lernt das Sprechen nicht«, nahm er eine der Maschinen aus dem Büro mit nach Hause. Leona Cassiani, die für alles Neue zu begeistern war, erbot sich, ihm Privatunterricht
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