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Die Liebe in den Zeiten der Cholera

Die Liebe in den Zeiten der Cholera

Titel: Die Liebe in den Zeiten der Cholera Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel García Márquez
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aussah. Trotz Florentino Arizas ausgezehrter Erscheinung, seiner Schüchternheit und seiner düsteren Kleidung losten die Mädchen aus seiner Gruppe heimlich untereinander aus, wer seine Partnerin sein durfte, und er spielte mit, bis zu dem Tag, da er Fermina Daza kennenlernte und es mit seiner Naivität vorbei war.
    Zum ersten Mal hatte er sie an einem Nachmittag gesehen, als Lothario Thugut ihm den Auftrag gab, ein Telegramm auszutragen, an jemanden, der Lorenzo Daza hieß und dessen Adresse unbekannt war. Er machte ihn am kleinen Parque de los Evangelios ausfindig, in einem der alten, verfallenen Häuser, dessen Innenhof dem Kreuzgang eines Klosters ähnelte, mit Unkraut in den Beeten und einem Steinbrunnen ohne Wasser. Florentino Ariza nahm kein menschliches Geräusch wahr, als er dem barfüßigen Dienstmädchen durch den Arkadengang folgte, wo noch ungeöffnete Umzugskisten herumstanden und Maurergerät zwischen Resten von Kalk und aufgeschichteten Zementsäcken lag, denn das Haus wurde gerade grundlegend renoviert. Hinten im Innenhof war ein provisorisches Büro eingerichtet. Dort saß vor dem Schreibtisch ein sehr dicker Mann mit krausen, in den Schnurrbart übergehenden Koteletten und hielt Siesta. Er hieß tatsächlich Lorenzo Daza und war in der Stadt kaum bekannt, da er erst vor knapp zwei Jahren gekommen war und kein Mann von vielen Freunden war. Er nahm das Telegramm in Empfang, als handele es sich um die Fortsetzung eines unheilvollen Traumes. Florentino Ariza musterte die fahlen Augen mit so etwas wie berufsmäßigem Mitgefühl, beobachtete, wie die unsicheren Finger versuchten, die Verschlußmarke zu zerreißen, diese Herzensangst, die er so viele Male so vielen Empfängern angesehen hatte, die bei einem Telegramm immer noch an nichts anderes als an den Tod dachten. Als Daza es gelesen hatte, fand er seine Beherrschung wieder. Er seufzte: »Gute Nachrichten.« Und drückte Florentino Ariza die üblichen fünf Reales in die Hand, gab ihm aber mit einem Lächeln zu verstehen, daß er sie ihm, wenn es eine schlechte Nachricht gewesen wäre, nicht gegeben hätte. Dann verabschiedete er ihn mit einem Händedruck, was gegenüber Telegrammboten unüblich war, und das Dienstmädchen begleitete Florentino Ariza, weniger um ihn zu führen, als um ihn zu überwachen, bis zur Eingangstür. Sie legten den gleichen Weg durch den Arkadengang in umgekehrter Richtung zurück, doch jetzt entdeckte Florentino Ariza, daß noch jemand im Haus war, denn die Helligkeit des Hofes war erfüllt von einer Frauenstimme, die ein Lesestück übte. Als er am Nähzimmer vorüberging, sah er durchs Fenster eine ältere Frau und ein Mädchen, die eng nebeneinander auf zwei Stühlen saßen und in dem Buch, das die Frau auf dem Schoß hielt, den Text verfolgten. Es schien ihm ein merkwürdiger Anblick: Die Tochter lehrt die Mutter lesen. Die Deutung stimmte nur zum Teil, denn die Frau war die Tante und nicht die Mutter des Mädchens, obwohl sie dieses wie eine Mutter aufgezogen hatte. Der Unterricht wurde nicht unterbrochen, das Mädchen hob jedoch den Blick, um nachzusehen, wer da am Fenster vorbeiging. Dieser beiläufige Blick war der Ursprung einer Gemütserschütterung, die ein halbes Jahrhundert später noch immer andauerte. Das einzige, was Florentino Ariza in Erfahrung bringen konnte, war, daß Lorenzo Daza kurz nach der Choleraepidemie mit seiner einzigen Tochter und seiner unverheirateten Schwester aus San Juan de la Ciénaga hergezogen war. Wer ihn beim Ausschiffen beobachtet hatte, zweifelte nicht daran, daß er gekommen war, um zu bleiben, denn er brachte alles Notwendige für ein gut ausgestattetes Haus mit. Seine Frau war gestorben, als die Tochter noch sehr klein war. Die Schwester hieß Escolástica, war vierzig Jahre alt und erfüllte ein Gelöbnis, indem sie nur im Habit des heiligen Franz auf die Straße ging und sich im Haus immerhin noch mit der Kordel gürtete. Das Mädchen war dreizehn Jahre alt und hieß wie seine tote Mutter: Fermina. Man vermutete, daß Lorenzo Daza ein Mann von Vermögen war, denn er lebte gut, ohne daß man seinen Beruf kannte, und hatte in klingender Münze das Haus am Parque de los Evangelios bezahlt, dessen Restaurierung ihn mindestens das Doppelte der zweihundert Goldpesos, für die er es gekauft hatte, kosten mußte. Das Mädchen ging in die Schule Presentación de la Sanísima Vírgen, wo die jungen Damen der Gesellschaft seit zwei Jahrhunderten die Kunst und den Beruf erlernten,

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