Die Liebe in den Zeiten der Cholera
einander all das sagen zu können, was ungesagt geblieben war, und alles noch einmal richtig zu machen, was sie in der Vergangenheit womöglich falsch gemacht hatten. Doch sie mußte sich der Strenge des Todes beugen. Ihr Schmerz gerann zu einem blinden Zorn gegen die Welt und sogar gegen sich selbst, und dies gab ihr den Mut und den Willen, sich allein ihrer Einsamkeit zu stellen. Von da an hatte sie keine Ruhepause, aber sie hütete sich vor jeglicher Geste, die ihren Schmerz zur Schau gestellt hätte. Der einzige, und zwar ungewollt ein wenig pathetische Moment war, als am Sonntag um elf Uhr nachts der bischöfliche Sarg gebracht wurde, der noch nach Schiffswerft roch, Messingbeschläge hatte und üppig mit Seide ausgeschlagen war. Doktor Urbino Daza ordnete an, ihn sofort zu schließen, da die Luft im Haus von den vielen in der unerträglichen Hitze duftenden Blumen aufgebraucht war, und er glaubte, die ersten bläulichen Flecken am Hals seines Vaters entdeckt zu haben. Eine zerstreute Stimme ließ sich in der Stille hören: »In diesem Alter ist man schon zu Lebzeiten halb verfault.« Bevor der Sarg geschlossen wurde, streifte Fermina Daza den Ehering ab und steckte ihn dem toten Ehemann an, und dann legte sie ihre Hand auf die seine, wie sie es immer getan hatte, wenn sie ihn in der Öffentlichkeit abwesend ertappte. »Wir sehen uns bald«, sagte sie zu ihm. Florentino Ariza, unkenntlich in der Menge der Honoratioren, spürte den Stich einer Lanze in seiner Seite. Fermina Daza hatte ihn im Tumult der ersten Beileidsbekundungen nicht bemerkt, obwohl in jener Nacht niemand so gegenwärtig sein sollte wie er, der alles Dringliche erledigte. Er war es, der Ordnung in den überschwemmten Küchenräumen schaffte, damit man Kaffee anbieten konnte. Er trieb weitere Stühle auf, als die der Nachbarn nicht ausreichten, und ordnete an, die überzähligen Kränze in den Hof zu legen, als kein einziger mehr im Haus Platz fand. Er sorgte dafür, daß Brandy für die Gäste des Doktor Lácides Olivella da war, die auf der Höhe der Jubiläumsfeier von der traurigen Nachricht überrascht worden waren, dann hereingeplatzt kamen und nun rund um den Mangobaum sitzend weiterfeierten. Er war der einzige, der zur rechten Zeit reagieren konnte, als um Mitternacht der flüchtige Papagei im Eßzimmer mit erhobenem Schnabel und ausgebreiteten Flügeln auftauchte und ein Schauder des Entsetzens durchs Haus ging, denn es war wie ein Menetekel der Reue. Florentino Ariza packte ihn am Hals, ließ ihm keine Zeit, irgendeine seiner unsinnigen Parolen zu schreien, und trug ihn im zugedeckten Käfig in den Stall. So machte er alles, mit viel Taktgefühl und dermaßen effektiv, daß niemand auf den Gedanken kam, er mische sich in fremde Angelegenheiten ein, im Gegenteil, er war eine unbezahlbare Hilfe in der bösen Stunde des Hauses.
Er war, was er zu sein schien: ein ernsthafter und zuvorkommender alter Mann. Er hatte eine knochige und aufrechte Gestalt, eine bräunliche, haarlose Haut, hungrige Augen hinter den runden, in Weißmetall gefaßten Brillengläsern und, für die Epoche etwas verspätet, einen romantischen Schnurrbart mit gewichsten Spitzen. Die restlichen Strähnen der Seitenhaare hatte er hochgekämmt und mit Pomade über den glänzenden Schädel geklebt, das letzte Mittel gegen eine Vollglatze. Seine angeborene Höflichkeit und seine sanftmütige Art nahmen sofort für ihn ein, galten aber bei einem eingefleischten Junggesellen auch als zwei verdächtige Tugenden. Er hatte viel Geld, viel Geist und viel Willenskraft darauf verwendet, damit man ihm die sechsundsiebzig Jahre nicht ansähe, die er im vergangenen Herbst vollendet hatte, und in der Einsamkeit seines Herzens war er davon überzeugt, in aller Stille sehr viel mehr geliebt zu haben als je irgend jemand auf dieser Welt.
Am Abend von Doktor Urbinos Tod war er so gekleidet, wie ihn die Nachricht überrascht hatte, also wie immer, selbst in der höllischen Junihitze: dunkler Rock mit Weste, eine Seidenschleife unter dem Zelluloidkragen, ein Filzhut und dazu ein Regenschirm aus schwarzem Satin, der ihm auch als Gehstock diente. Als aber der Morgen zu grauen begann, verschwand er für zwei Stunden von der Totenwache und kehrte mit den ersten Strahlen der Sonne zurück, erfrischt, gut rasiert und nach Toilettenwässerchen duftend. Er hatte einen jener schwarzen Gehröcke angezogen, die nur noch bei Beerdigungen und zu den Messen der Karwoche getragen wurden, dazu einen
Weitere Kostenlose Bücher