Die Liebe in den Zeiten der Cholera
Ratschläge, zweifellos, sie kamen jedoch zu spät. In Wirklichkeit hatte Florentino Ariza schon an dem Tag, als Fermina Daza ihre Lektion kurz unterbrach, um zu sehen, wer da über den Gang ging, mit seiner Aura der Verlassenheit Eindruck auf sie gemacht. Abends, während des Essens, hatte ihr Vater von dem Telegramm gesprochen, und so erfuhr sie, was Florentino Ariza ins Haus geführt hatte und was sein Beruf war. Diese Neuigkeiten verstärkten ihr Interesse, denn für sie, wie für viele Menschen ihrer Zeit, hatte die Erfindung des Telegraphen etwas mit Magie zu tun. Daher erkannte sie Florentino Ariza gleich beim ersten Mal, als sie ihn unter den Bäumen lesen sah, was sie keineswegs in Unruhe versetzte, zumal die Tante sie nicht wissen ließ, daß er bereits seit mehreren Wochen dort saß. Später, als sie ihn auch sonntags nach der Messe sahen, war die Tante endgültig davon überzeugt, daß ein so häufiges Zusammentreffen nicht zufällig sein konnte. Sie sagte: »So viel Mühe macht er sich wohl kaum meinetwegen.« Denn trotz ihrer strengen Haltung und ihres Büßergewandes hatte Tante Escolástica einen Instinkt für das Leben und eine Berufung zur Komplizin, übrigens ihre besten Tugenden, und unwiderstehliche Rührung überwältigte sie bei dem bloßen Gedanken, daß ein Mann sich für ihre Nichte interessierte. Fermina Daza selbst war jedoch auch von der einfachen Neugier, was Liebe sei, noch unberührt, und das einzige, was Florentino Ariza in ihr auslöste, war ein wenig Mitleid, denn er kam ihr krank vor. Aber die Tante sagte, daß man viel gelebt haben müsse, um die wahre Art eines Mannes zu erkennen, und sie war davon überzeugt, daß jener, der sich unter die Mandelbäume setzte, um Fermina Daza vorbeigehen zu sehen, nur vor Liebe krank sein könne.
Die Tante war für die einzige Tochter aus einer Ehe ohne Liebe ein Hort des Verständnisses und der Zuneigung. Escolástica Daza hatte das Kind seit dem Tod der Mutter aufgezogen und hielt, mehr Komplizin als Tante, auch gegen Lorenzo Daza zu ihr. Daher bedeutete das Auftauchen von Florentino Ariza für die beiden ein heimliches Vergnügen mehr, wie sie es sich gerne ausdachten, um die toten Stunden zu vertreiben. Viermal am Tag, wenn sie durch den Parque de los Evangelios gingen, beeilten sich beide, mit einem raschen Blick den schmächtigen Wachposten zu orten, der schüchtern, nicht der Rede wert und trotz der Hitze fast immer in Schwarz, unter den Bäumen zu lesen vorgab. »Da ist er«, sagte, wer ihn zuerst entdeckt hatte, und sie unterdrückten das Lachen, bevor er den Blick hob und die beiden Frauen sah, die, unbeirrbar und seinem Leben fern, den Platz überquerten, ohne ihn anzusehen.
»Der Arme«, hatte die Tante gesagt. »Er traut sich nicht näher zu kommen, weil ich bei dir bin, aber wenn er ernste Absichten hat, wird er es eines Tages versuchen. Dann wird er dir einen Brief übergeben.«
Mögliche Widrigkeiten voraussehend, brachte sie ihr bei, sich mit Fingerzeichen zu verständigen, ein unverzichtbares Hilfsmittel bei verbotenen Liebschaften. Diese überraschenden, fast kindischen Spaße weckten in Fermina Daza eine unbekannte Neugier. Mehrere Monate lang kam sie jedoch nicht auf den Gedanken, daß daraus mehr werden könnte. Sie wußte auch später nie, in welchem Moment aus dem Vergnügen Verlangen geworden war und wann ihr Blut bei dem Wunsch, ihn zu sehen, in Wallung geraten war. Eines Nachts wachte sie schaudernd auf, weil sie gesehen hatte, wie er sie im Dunkeln vom Fußende ihres Bettes aus betrachtete.
Da wünschte sie sich mit ganzer Seele, daß sich die Voraussagen ihrer Tante erfüllten, und sie flehte in ihren Gebeten zu Gott, daß er ihm den Mut verlieh, ihr den Brief zu übergeben, nur um zu wissen, was darin stand. Doch ihre Bitten wurden nicht erhört. Im Gegenteil. Dies geschah zu der Zeit, als Florentino Ariza sich seiner Mutter anvertraut und diese ihn davon überzeugt hatte, die siebzig Seiten Artigkeiten nicht zu übergeben, so daß Fermina Daza den Rest des Jahres über weiter warten mußte. Aus ihrem Sehnen wurde, je näher die Dezemberferien rückten, Verzweiflung, denn sie fragte sich ruhelos, was sie tun könne, um ihn während der drei Monate, die sie nicht zur Schule ging, zu sehen und auch von ihm gesehen zu werden. Die Fragen bedrängten sie ohne Lösung bis in die Weihnachtsnacht, als die Ahnung sie durchschauerte, daß er sie aus der Menschenmenge der Christmette ansah, und vor innerer Unruhe ging ihr
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