Die Liebe in den Zeiten der Cholera
Herz durch. Sie wagte nicht, den Kopf zu wenden, da sie zwischen dem Vater und der Tante saß, und sie mußte sich zusammennehmen, damit diese nicht ihre Verwirrung bemerkten. In dem Gedränge beim Hinausgehen spürte sie ihn so nah, so deutlich zwischen den vielen Menschen, daß, als sie die Kirche durch das Mittelschiff verließ, eine unwiderstehliche Macht sie zwang, über die Schulter zu schauen, und da sah sie zwei Handbreit vor ihren Augen diese anderen Augen aus Eis, das bleiche Gesicht, die vom Schrecken der Liebe versteinerten Lippen. Verwirrt von ihrem eigenen Mut, griff sie nach dem Arm von Tante Escolástica, um nicht zu stürzen, und diese fühlte durch den Spitzenhandschuh hindurch den eisigen Schweiß der Hand und gab ihr Zuspruch mit einem kaum wahrnehmbaren Zeichen bedingungsloser Kameradschaft. Inmitten der knallenden Raketen und des Getrommels der bunten Laternen an den Portalen und einer lärmenden Menge, die sich nach Frieden sehnte, irrte Florentino Ariza bis zum Morgengrauen wie ein Schlafwandler einher. Er sah das Fest durch seine Tränen, betäubt von der Halluzination, daß er und nicht Gott in dieser Nacht geboren worden war.
Das Delirium steigerte sich in der folgenden Woche noch, als er zu Siestazeit ohne Hoffnung am Haus von Fermina Daza vorbeiging und sah, daß sie und die Tante unter den Mandelbäumen beim Portal saßen. Es war eine Wiederholung im Freien von eben dem Bild, das er am ersten Nachmittag im Nähzimmer gesehen hatte: Das Mädchen nahm mit der Tante ein Lesestück durch. Doch Fermina Daza war ohne die Schuluniform verwandelt, sie trug ein Leinenkleid, das wie ein griechisches Gewand in vielen Falten von den Schultern herabfiel, auf dem Kopf hatte sie einen Kranz aus frischen Gardenien und glich damit einer bekränzten Göttin. Florentino Ariza setzte sich auf den Platz, dort wo er sicher sein konnte, gesehen zu werden, und gab auch nicht vor zu lesen, sondern saß da, das Buch geöffnet und die Augen fest auf die unerreichbare Jungfrau gerichtet, die ihm nicht einmal einen mildtätigen Blick schenkte. Zunächst hielt er die Lektion unter den Mandelbäumen für eine zufällige Erscheinung, die vielleicht auf die endlosen Reparaturen im Haus zurückzuführen war, in den folgenden Tagen wurde ihm jedoch klar, daß Fermina Daza jeden Nachmittag zur gleichen Stunde dort sein würde, in seiner Sichtweite, die ganzen drei Ferienmonate über, und diese Gewißheit flößte ihm neuen Mut ein. Er hatte nicht den Eindruck, selbst gesehen zu werden, bemerkte keinerlei Zeichen von Interesse oder Ablehnung, doch in ihrem Gleichmut war nun ein Leuchten, das ihn in seiner Beharrlichkeit bestärkte. Plötzlich, an einem Nachmittag Ende Januar, legte die Tante ihre Handarbeit auf den Stuhl und ließ ihre Nichte allein im Strom der von den Mandelbäumen fallenden gelben Blätter am Portal zurück. Ermutigt von der spontanen Annahme, daß dies eine abgesprochene Gelegenheit sein mußte, überquerte Florentino Ariza die Straße, baute sich vor Fermina Daza auf, so nah, daß er ihren zerrissenen Atem und jenen Blumenhauch wahrnahm, den er von nun an und für immer mit ihr verbinden sollte. Er sprach sie an, mit erhobenem Haupt und mit einer Entschiedenheit, die er erst ein halbes Jahrhundert später und aus dem gleichem Grund wiedergewinnen sollte. »Ich bitte Sie nur um eins, nehmen Sie einen Brief von mir an«, sagte er zu ihr.
Das war nicht die Stimme, die Fermina Daza von ihm erwartet hätte, so eine klare Stimme, von einer Beherrschung, die mit seinen schmachtenden Gebärden nichts zu tun hatte. Ohne die Augen von der Stickerei zu heben, antwortete sie ihm: »Ich kann ihn nicht ohne die Erlaubnis meines Vaters annehmen.« Florentino Ariza erschauerte von der Wärme jener Stimme, deren matte Klangfarbe er für den Rest seines Lebens nicht vergessen sollte. Doch er blieb hart und erwiderte sofort: »Holen Sie die Erlaubnis ein.« Dann milderte er den Befehl, indem er flehentlich hinzufügte: »Es geht um Leben oder Tod.« Fermina Daza sah ihn nicht an, stickte weiter, doch seine Entschlossenheit öffnete eine Tür, nur einen Spalt breit, durch den aber paßte die Welt. »Kommen Sie jeden Nachmittag«, sagte sie, »und warten Sie darauf, daß ich den Stuhl wechsle.«
Erst am Montag der nächsten Woche begriff Florentino Ariza, was sie damit hatte sagen wollen, als er von seiner Bank aus die gleiche Szene sah wie immer, aber mit einer Variante: Als die Tante Escolástica ins Haus ging, stand
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