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Die Liebe in den Zeiten der Cholera

Die Liebe in den Zeiten der Cholera

Titel: Die Liebe in den Zeiten der Cholera Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel García Márquez
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nicht gesehen wurde. Alles war wie immer. Die Lesestunde endete gegen zwei Uhr mittags, wenn die Stadt von der Siesta erwachte, dann stickten Fermina Daza und die Tante noch eine Weile, bis die Hitze nachließ. Florentino Ariza wartete diesmal nicht, bis die Tante ins Haus ging, er überquerte die Straße mit martialischen Schritten, die ihm erlaubten, die Mutlosigkeit seiner Knie zu überwinden. Er wendete sich dann aber nicht an Fermina Daza, sondern an die Tante. »Tun Sie mir den Gefallen, lassen Sie mich einen Augenblick allein mit dem Fräulein«, sagte er zu ihr, »ich muß ihr etwas Wichtiges mitteilen.«
    »Das ist dreist!« sagte die Tante. »Es gibt nichts, was ich nicht hören dürfte.«
    »Dann sage ich es nicht, aber ich mache Sie darauf aufmerksam, die Verantwortung für das, was geschieht, tragen Sie.« Das war nicht gerade die Art, die Escolástica Daza von dem idealen Verehrer erwartete, sie stand aber verschreckt auf, weil sie zum erstenmal den ergreifenden Eindruck hatte, daß aus Florentino Arizas Worten der Heilige Geist sprach. Also ging sie ins Haus, um Nadeln zu holen, und ließ die beiden jungen Menschen unter den Mandelbäumen am Portal allein.
    Genaugenommen wußte Fermina Daza von diesem wortkargen Freier, der wie eine Winterschwalbe in ihrem Leben aufgetaucht war, nur sehr wenig. Ohne die Unterschrift unter dem Brief, hätte sie nicht einmal seinen Namen gekannt. Inzwischen hatte sie ausgekundschaftet, daß er der vaterlose Sohn einer Ledigen war, die als ernsthaft und arbeitsam galt, jedoch hoffnungslos vom Brandmal einer einzigen Jugendsünde gezeichnet war. Fermina Daza hatte erfahren, daß er kein Telegrammbote, sondern ein qualifizierter Telegraphenassistent mit einer hoffnungsvollen Zukunft war, und sie glaubte, das Telegramm für ihren Vater sei nur ein Vorwand gewesen, um sie zu sehen. Diese Vermutung rührte sie. Sie wußte auch, daß er einer der Musiker im Chor war, und obwohl sie nie gewagt hatte, dies mit eigenen Augen während der Messe zu überprüfen, hatte sie eines Sonntags die Offenbarung, daß die Instrumente für alle spielten, mit Ausnahme der Geige, die wurde nur für sie gestrichen. Er war nicht der Typ Mann, den sie sich ausgesucht hätte. Seine Findelkindbrille, sein klerikaler Aufzug, sein geheimnistuerisches Gehabe hatten in ihr eine Neugier geweckt, der schwer zu widerstehen war, aber sie hätte nie vermutet, daß auch die Neugier eine der ach so vielen Fallen der Liebe war.
    Sie konnte sich selbst nicht erklären, warum sie den Brief angenommen hatte. Nicht daß sie es sich vorwarf, aber die als immer drängender empfundene Verpflichtung, eine Antwort zu geben, behinderte sie regelrecht in ihrem Leben. Jedes Wort ihres Vaters, jeder zufällige Blick, seine gewöhnlichsten Gesten erschienen ihr wie Fallstricke, um ihr das Geheimnis zu entlocken. Sie lebte in einem Zustand gespannter Wachsamkeit und vermied sogar, bei Tisch zu reden, aus Angst, eine unbedachte Äußerung könne sie verraten. Sie wich selbst Tante Escolástica aus, obwohl diese ihre unterdrückte Unruhe teilte, als sei es die eigene. Zu jeder Tageszeit schloß sich das Mädchen ohne Notwendigkeit im Bad ein und las wieder und wieder den Brief, versuchte, einen Geheimcode zu entdecken, eine magische Formel, die in irgendeinem der dreihundertvierzehn Buchstaben der achtundfünzig Worte verborgen gewesen wäre, in der Hoffnung, daß diese mehr aussagten, als sie sagten. Doch sie fand nichts, was über das damals beim ersten Lesen Verstandene hinausging, als sie mit tollem Herzen ins Bad gerannt war, sich eingeschlossen, den Umschlag in der Hoffnung auf einen üppigen, fiebrigen Brief aufgerissen, dann aber nur ein parfümiertes Billett vorgefunden hatte, dessen Entschiedenheit sie erschreckte.
    Zunächst hatte sie nicht im Ernst daran gedacht, daß sie zu einer Antwort verpflichtet wäre, doch der Brief war so eindeutig, daß es keine Möglichkeit gab, ihn einfach zu übergehen. Währenddessen ertappte sie sich im Sturm der Zweifel dabei, daß sie häufiger und angelegentlicher an Florentino Ariza dachte, als sie es sich selbst zugestehen mochte, sie fragte sich sogar bekümmert, warum er nicht zur gewohnten Uhrzeit auf seiner Bank saß, ohne daran zu denken, daß sie selbst ihn ja darum gebeten hatte, nicht wiederzukommen, bis sie sich eine Antwort überlegt hätte. Sie hatte nie für möglich gehalten, daß man so an jemanden denken könnte, wie sie schließlich an ihn dachte, sie spürte ihn,

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