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Die Liebe in den Zeiten der Cholera

Die Liebe in den Zeiten der Cholera

Titel: Die Liebe in den Zeiten der Cholera Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel García Márquez
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Provinzen der Karibikküste das Standrecht aus und verordnete die Sperrstunde für sechs Uhr abends. Obwohl es schon einige Unruhen gegeben und das Heer sich bei Vergeltungsaktionen allerlei Übergriffe erlaubt hatte, lebte Florentino Ariza auch weiter vom Zustand der Welt unberührt und ließ sich eines frühen Morgens von einer Militärpatrouille dabei überraschen, wie er mit seinen musikalischen Ausschweifungen die Keuschheit der Toten störte. Nur durch ein Wunder entging er einer sofortigen Exekution, hielt man ihn doch für einen Spion, der in g-Dur verschlüsselte Botschaften an die liberalen Schiffe übermittelte, die in den nahen Gewässern kreuzten.
    »Was, zum Teufel, heißt hier Spion«, sagte Florentino Ariza, »ich bin nur ein armer Verliebter.«
    Er schlief drei Nächte mit Ketten an den Knöcheln in der Ortsgarnison. Als sie ihn dann aber laufen ließen, fühlte er sich um eine längere Haft betrogen, und noch im Alter, als sich in seiner Erinnerung so viele andere Kriege vermengten, glaubte er, der einzige Mann in der Stadt, vielleicht im ganzen Land zu sein, der wegen einer Liebesangelegenheit fünf Pfund schwere Fußketten hatte schleppen müssen. Zwei Jahre eines exaltierten Briefwechsels vollendeten sich, als Florentino Ariza in einem nur einen Absatz langen Brief Fermina Daza seinen förmlichen Heiratsantrag machte. In den sechs vorangegangenen Monaten hatte er ihr mehrmals ein weiße Kamelie geschickt, doch die hatte sie jeweils ihrem Antwortbrief wieder beigelegt: Er sollte nicht an ihrer Bereitschaft, ihm weiterhin zu schreiben, zweifeln, aber sie wollte es nicht unter dem gewichtigen Vorzeichen einer Verlobung tun. In Wahrheit hatte sie das Kommen und Gehen der Kamelien für Liebesgeplänkel gehalten, und es war ihr nie in den Sinn gekommen, darin einen Kreuzweg ihres Schicksals zu sehen. Als aber der förmliche Antrag kam, spürte sie zum ersten Mal die Krallen des Todes. Von Panik ergriffen, erzählte sie es der Tante Escolástica, und diese beriet sie mit dem Mut und der Klarsicht, die ihr selbst im Alter von zwanzig gefehlt hatten, als sie gezwungen gewesen war, über ihr eigenes Glück zu entscheiden. »Antworte mit Ja«, riet sie ihr. »Selbst wenn du vor Angst stirbst, selbst wenn du es später bereuen solltest, denn du wirst es auf jeden Fall dein ganzes Leben lang bereuen, wenn du ihm mit Nein antwortest.«
    Fermina Daza war jedoch so verwirrt, daß sie sich eine Bedenkfrist ausbat. Sie bat erst um einen Monat, dann um noch einen, und als der vierte Monat ohne Antwort verstrichen war, bekam sie wieder eine Kamelie geschickt, doch diesmal nicht, wie bei den anderen Malen allein in einem Umschlag, sondern mit der endgültigen Mitteilung, daß dies die letzte sei: jetzt oder nie. Nun war es Florentino Ariza, der noch am gleichen Nachmittag dem Tod ins Auge sah, als er in einem Umschlag einen aus einem Schulheft gerissenen Papierstreifen erhielt, und darauf stand mit Bleistift geschrieben eine einzige Zeile: Gut, ich heirate Sie, wenn Sie mir versprechen, daß Sie mich nie zwingen werden, Auberginen zu essen. Florentino Ariza war auf diese Antwort nicht vorbereitet. Seine Mutter aber war es. Seit er vor sechs Monaten zum ersten Mal von seinem Heiratswunsch gesprochen hatte, hatte Tránsite Ariza alles in die Wege geleitet, um das Haus ganz zu mieten, das sie bislang mit zwei anderen Familien geteilt hatte. Es war ein Bau aus dem siebzehnten Jahrhundert, zweigeschossig, einst Sitz der königlich spanischen Tabakbehörde. Die bankrotten Eigentümer mußten das Haus stückweise vermieten, da ihnen die Mittel fehlten, es instand zu halten. Ein Gebäudeteil, in dem die Verkaufsräume gewesen waren, ging zur Straße, ein anderer, der als Fabrik gedient hatte, stand hinten im gepflasterten Hof, und dann gab es noch einen großen Pferdestall, den die jetzigen Mieter gemeinsam benutzten, um dort Wäsche zu waschen und aufzuhängen. Tránsite Ariza bewohnte den vorderen Teil, der zwar der kleinste, aber auch am besten erhaltene und praktischste war. In der alten Verkaufshalle befand sich der Kurzwarenladen mit einem Tor zur Straße, und daneben, im ehemaligen Lager, das nur eine Lüftungsluke hatte, schlief Tránsito Ariza. Das Hinterzimmer des Geschäfts war die durch eine Holzlattenwand abgetrennte andere Hälfte der Halle. Dort stand ein Tisch mit vier Stühlen, der zum Essen wie zum Schreiben diente, und dort spannte auch Florentino Ariza seine Hängematte auf, wenn ihn nicht das

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