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Die Liebe in den Zeiten der Cholera

Die Liebe in den Zeiten der Cholera

Titel: Die Liebe in den Zeiten der Cholera Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel García Márquez
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sich selbst schrieb Florentino Ariza jede Nacht im Hinterzimmer des Kurzwarengeschäfts, er vergiftete sich Buchstabe für Buchstabe am Rauch der Steinnußöl-Lampen, und je mehr er sich bemühte, seine Lieblingsdichter aus der Biblioteca Populár, die damals schon an die achtzig Bände umfaßte, zu imitieren, desto umfangreicher und mondsüchtiger wurden seine Briefe. Seine Mutter, die ihn mit soviel Eifer angehalten hatte, seine Qualen zu genießen, begann sich nun um seine Gesundheit zu sorgen: »Du schreibst dir das Hirn wund«, rief sie ihm aus dem Schlafzimmer zu, wenn sie die ersten Hähne krähen hörte. »Die Frau, die das wert ist, gibt es nicht.« Sie konnte sich nämlich nicht erinnern, jemals jemanden in einem solchen Zustand der Verlorenheit erlebt zu haben. Er aber hörte nicht auf sie. Manchmal ging er, ohne geschlafen zu haben, das Haar von Liebe aufgewühlt, ins Amt, nachdem er den Brief in das vorgesehene Versteck gelegt hatte, damit Fermina Daza ihn auf dem Weg zur Schule finden könne. Sie hingegen, die der Wachsamkeit ihres Vaters und der lasterhaften Neugier der Nonnen ausgesetzt war, schaffte es kaum, eine halbe Seite aus einem Schulheft zu füllen, wenn sie sich ins Bad einschloß oder vorgab, beim Unterricht Notizen zu machen. Nicht nur die Hast und die ständigen Störungen, auch ihr Charakter war der Grund dafür, daß ihre Briefe jede Gefühlsklippe umschifften und sich auf Begebenheiten aus ihrem täglichen Leben beschränkten, die im amtlichen Ton eines Logbuchs erzählt wurden. Tatsächlich waren es Hinhaltebriefe, dazu bestimmt, die Glut wachzuhalten, ohne dabei die Hand ins Feuer legen zu müssen, während Florentino Ariza in jeder seiner Zeilen verglühte. Begierig, sie mit dem eigenen Wahnsinn anzustecken, schickte er ihr Verse, die Miniaturisten mit Nadeln in die Blütenblätter von Kamelien gestochen hatten. Er und nicht sie hatte die Kühnheit, eine Haarsträhne von sich in einen Brief zu legen. Doch die ersehnte Antwort blieb aus, und zwar ein Haar in ganzer Länge aus Fermina Dazas Zopf. Immerhin erreichte er, daß sie einen Schritt weiter ging. Sie begann, ihm Blattgerippe zu schicken, die sie in Lexika gepreßt hatte, Schmetterlingsflügel, Federn von Zaubervögeln und als Geburtstagsgeschenk einen Quadratzentimeter vom Gewand des heiligen Pedro Claver, das in jenen Tagen zu einem für ein Schulmädchen unerschwinglichen Preis unter der Hand gehandelt wurde. Völlig unvorbereitet wachte Fermina Daza eines Nachts erschreckt von einer Serenade auf, eine einzelne Geige spielte nur einen Walzer. Die hellsichtige Erkenntnis ließ sie erbeben, daß jede Note eine Danksagung für die Blütenblätter aus ihrem Herbarium war, für die der Arithmetik geraubte Zeit, für die Angst bei den Examina, wenn sie mehr an ihn als an die Naturwissenschaften gedacht hatte, sie wagte jedoch nicht zu glauben, daß Florentino Ariza zu einer solchen Unbesonnenheit fähig sei.
    Am nächsten Morgen konnte Lorenzo Daza beim Frühstück seine Neugierde nicht unterdrücken. Erstens, weil er nicht wußte, was ein einziges Stück in der Sprache der Ständchen bedeutete, und zweitens, weil er, obwohl er aufmerksam gelauscht hatte, nicht genau hatte ausmachen können, vor welchem Haus es gehalten worden war. Mit einer Kaltblütigkeit, die der Nichte die Atemluft wiedergab, versicherte Tante Escolástica, sie hätte durch die Vorhänge des Schlafzimmers den einsamen Geiger auf der anderen Seite des Platzes gesehen, und dann sagte sie noch, mit einem einzelnen Stück werde auf jeden Fall eine Trennung bekanntgegeben. In seinem Brief an diesem Tag bestätigte Florentino Ariza, daß er das Ständchen gespielt habe, daß er den Walzer selbst komponiert und ihm den Namen gegeben habe, auf den Fermina Daza in seinem Herzen höre: Die bekränzte Göttin. Er spielte nicht wieder auf dem Platz, dafür zuweilen in Mondnächten, an eigens ausgewählten Orten, damit sie ihn unbesorgt von ihrem Zimmer aus hören konnte. Einer seiner Lieblingsplätze war der Armenfriedhof, auf einem dürftigen Hügel Sonne und Regen ausgesetzt, wo die Geier schliefen und die Musik eine übernatürliche Resonanz erreichte. Später lernte er die Richtung der Winde nutzen und konnte sichergehen, daß seine Melodie dort zu hören war, wo sie gehört werden sollte.
    Im August dieses Jahres drohte sich ein weiterer jener vielen Bürgerkriege, die seit über einem halben Jahrhundert das Land verwüsteten, auszubreiten, die Regierung rief in den

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