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Die Liebe ist eine Insel

Die Liebe ist eine Insel

Titel: Die Liebe ist eine Insel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudie Gallay
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keine Wut. Kein Mitleid. Keine Spur von Vorwurf.
    Nur ein schwaches, flüchtiges Lächeln.
    Er hat es getan, scheint dieses Lächeln sagen zu wollen.

E rzählen Sie es mir noch einmal …«
    Odon weiß nicht mehr, wie er es erzählen soll.
    »Ich habe zwei, vielleicht drei Wochen verstreichen lassen, dann habe ich deine Mutter angerufen und ihr gesagt, ich hätte ein Manuskript von Paul. Ich habe sie gefragt, ob sie wolle, dass ich es ihr zurückschicke.«
    Marie starrt auf den Boden zwischen ihren Füßen. Sie insistiert, sie weiß, dass sie ihn zur Verzweiflung bringt.
    »Und was hat sie Ihnen geantwortet?«
    »Das weißt du doch, du warst da …«
    »Ich will es noch einmal hören.«
    Odon seufzt.
    »Sie hat gesagt, ich könne es verbrennen.«
    Maries Mutter hatte das unheimliche Lachen einer betrunkenen oder kranken Frau.
    Odon legte auf. Er steckte das Manuskript in einen braunen Umschlag und schrieb Selliès’ Namen darauf.
    Mathilde war da, sie schaute ihm zu, seinen Bewegungen, wie er die Adresse schrieb. »Du schickst es zurück?«, fragte sie.
    Er schloss die Lasche des Umschlags.
    Sie hatte papalines gekauft, Disteln aus Schokolade, die sie einzeln aus einer Papiertüte nahm. Jede Distel hatte eine andere Farbe.
    Sie schob eine rosafarbene zwischen ihre Zähne. Biss hinein.
    Sie nahm eine zweite und schmiegte sich an ihn. Sie presste ihren Mund auf seinen und zerbiss die Distel. Sie war mit einem Likör gefüllt, der Origan du Comtat rann über ihre Zungen, eine Verbindung von Honig und Schokolade.
    Die Erinnerung an Anamorphose hat immer noch diesen Geschmack.
    »Und wie lange haben Sie sie deswegen dann noch ficken dürfen?«
    »Sei nicht vulgär.«
    »Wie lange?«
    »Ein paar Wochen.«
    Sie reibt sich die Lippen, ihre Hände sind schmutzig, die Spucke wird bitter.
    Ihre Mutter hat schlimme Beine, Krampfadern dick wie Finger. Eine Operation ist unumgänglich.
    »Ich brauche Geld«, sagt Marie.
    Sie streckt die Hand aus, die Finger gespreizt, fordernd. Odon ist müde. Er betrachtet den Himmel, diese Nacht nimmt kein Ende.
    Er steht auf.
    »Na ja …«
    Er geht in den Frachtraum hinunter. Als er wiederkommt, legt er Scheine auf den Tisch, vor sie. Nicht auf ihre Hand.
    Sie nimmt sie, zählt.
    »Zu diesem Preis wasche ich Ihnen die Füße, ich werde Ihre Maria Magdalena, Ihre Begleiterin, Ihre Hure …«
    Ihre Stimme bricht.
    »Nein, die Hure ist meine Mutter«, sagt sie.
    Er setzt sich wieder in den Sessel.
    Sie steckt die Scheine in die Gesäßtasche ihrer Jeans. Sie blickt auf die andere Seite der Rhone, zur Stadt und ihren Mauern.

S ie gehen an Deck. Die Lampe über der Tür brennt. Vom Ufer dringt Musik zu ihnen, ein Wagen, der mit offenen Fenstern vorbeifährt, Sylvie Vartan.
    Marie pfeift mit.
    »Du kennst das?«, fragt Odon.
    »Meine Mutter, die sechziger Jahre, ja, ich kenne es …«
    Das Chanson entfernt sich.
    Es ist ein lauer Sommerabend. Zu viele Laternen, um die Sterne sehen zu können.
    Am liebsten würde sie die Taue lösen und den Kahn treiben lassen. Vielleicht würden sie das Meer erreichen …
    Sie dreht sich zu Odon.
    »Wie waren Ihre letzten Tage seines Lebens?«
    Die letzten Tage des Lebens von Selliès … Mathilde und er hatten drei spielfreie Tage, sie fuhren sonntags los, ans Meer bei Saintes-Maries. Ein Hotel am Strand. Es war Februar, das Wetter war schön, ein sonniger spätwinterlicher Tag. Vom Bett aus konnten sie die Wellen sehen. Dienstagabend kamen sie zurück.
    »Am nächsten Tag habe ich bei dir angerufen, es war frühmorgens, aber niemand ging dran. Danach haben wir gearbeitet«, sagt er. Wir waren mit dem Beckett im Rückstand.
    »Am frühen Nachmittag habe ich noch einmal angerufen.«
    »Mein Bruder ist am Abend gestorben.«
    »Es gab keinen Anrufbeantworter.«
    Sie reibt die Hände an ihrem Gesicht. In der Stille hört er, wie das Wasser gegen den Rumpf schlägt, wie sich die Taue spannen.
    »Um welche Zeit haben Sie zum letzten Mal angerufen?«
    »Bevor wir die Proben wieder aufgenommen haben, am frühen Nachmittag.«
    Sie erhebt sich, geht auf das Vorschiff. Stützt sich auf die Reling. Schließt die Augen. Eigentlich sollte sie gehen.
    »Erzählen Sie mir von ihr.«
    Er legt die Hand auf die feuchte Reling.
    »Sie hat dem Text deines Bruders Leben eingehaucht.«
    »Bevor sie gegeben hat, hat sie genommen …«
    Marie winkelt ihre Finger an und reibt die Nägel aneinander. Das Geräusch klingt wie Regen.
    »Ich will sie treffen. Ich will sie Anamorphose

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