Die Liebe ist eine Insel
du seist am Ziel, gehst du immer noch weiter.«
Marie nähert sich dem Fluss und betrachtet ihr Spiegelbild im Wasser. Das von Greg neben sich. Sie wirft Steine in die Strömung. Ihr Bruder sagte, vor ihrer Geburt habe es andere Leben gegeben und diese anderen Leben hätten das ihre vorbereitet. Sie fragt Greg, ob der Tod wie vor dem Leben sei, doch er weiß nicht, was der Tod ist.
»Vielleicht kann man es verstehen, wenn man sehr intensiv die Nacht betrachtet?«
»Vielleicht.«
Er pfeift auf den Tod.
Er nimmt Maries Kopf in seine Hände. Sie spürt seinen Atem nah an ihrem. Er drückt die Lippen auf ihre Stirn und ihre Augen. Auf ihre Wangen.
Ihre Münder berühren sich leicht. Es ist rein, sehr unerwartet.
Marie vergisst den Caravan, die Kugel und den Tod.
Es ist ein sehr sanfter Kuss. Als sie die Augen öffnet, sieht sie den Fluss, und es ist nicht mehr derselbe Fluss. Es ist nicht mehr wie vorher.
Greg streicht ihr übers Haar. Er küsst sie erneut. Ihre Zungen finden sich.
Er tritt zurück. Betrachtet sie.
Er sagt: »Es gibt Tage, an denen man so glücklich ist, dass man sie zu Feiertagen erklären sollte.«
Er flüstert es, die Lippen an ihrer Schläfe. Die Hände in ihrem Nacken verschränkt.
Er zieht an dem Lederriemen. Langsam, Zentimeter um Zentimeter.
»Was ist das?«, fragt er.
Er traut sich nicht, den Beutel zu berühren.
»Trägst du wirklich die Asche deines Bruders darin?«
Als Damien es ihm sagte, konnte er es nicht glauben.
Marie hebt den Kopf.
Gregs Hände sind noch immer auf ihr. Sie gleiten am Hals entlang, legen sich auf den Riemen.
»Du kannst das nicht behalten …«
Seine Bewegungen sind langsam. Er hebt den Beutel hoch und nimmt ihn sanft weg. Ihre Gesichter berühren sich beinahe.
Marie spürt seine Hände neben ihren Wangen. Sie sieht seine Arme. Schon hat der Lederbeutel seinen warmen Platz auf ihrem Bauch verlassen.
Sie spürt ihn nicht mehr.
Sie öffnet leicht den Mund. Beißt, ein kurzer heftiger Schlag ihrer Kiefer. Die Zähne schließen sich um den Arm, ein paar kurze Sekunden lang. Greg schreit auf, lässt den Riemen los.
Marie tritt zurück.
Der Beutel fällt herab, an seinen Platz zurück.
Es ist vorbei.
Sie weicht noch weiter zurück, wendet sich ab.
Auf Gregs Arm ist der Abdruck ihrer Zähne zu erkennen.
M arie beugt sich über das Waschbecken, wäscht ihre Lippen, das Innere ihres Mundes, reinigt sich. Die Seife bringt sie zum Spucken.
Leben bedeutet leiden.
Lust führt zu Ekel.
Sie wäscht alle Stellen ihrer Haut, die von der anderen Haut berührt worden sind. Den Hals, die Zunge. Sie hat Gregs Arm gebissen, den Beutel an ihren Bauch gedrückt und ist weggelaufen.
Sie ist lange gerannt.
Außer Atem zurückgekommen. Ihr Zimmer, ihre Kleidung, sie hat daran gedacht, die Stadt zu verlassen.
Sie benetzt ihre Augen. Hebt den Kopf. Ihr Gesicht sieht merkwürdig aus. Sie schiebt einen Finger in den Mund, steckt ihn tief hinein. Sie will den Kuss erbrechen und die Erinnerung an Greg und seine süße Spucke.
Sie kehrt ins Zimmer zurück.
Schließt die Tür.
Sie setzt sich mit dem Rücken an die Wand und legt den Beutel zwischen ihre Schenkel. Vorsichtig löst sie den Riemen, zieht die Zipfel auseinander, langsam. Die Asche ist leicht, etwas davon fliegt auf und bleibt in ihren Wimpern hängen. Ein scharfer, widerlicher Geruch, der sie zwingt zu atmen.
Sie lässt etwas Asche in ihre Hand fallen. Eine kleine blaue Pyramide.
Marie beugt sich vor, sie erinnert an eine alte Frau, die betet. Ihre Hand ist geöffnet. Ihr Mund wirft einen Schatten. Die Asche bleibt an ihren Lippen haften, trocknet sie aus. Die Lippen öffnen sich leicht, wie am Fluss. Die Zunge nimmt die Asche auf, Gaumen, Zähne, Spucke, sie transportiert sie ins Innere.
Es knistert.
Sie erschauert.
Sie zwingt sich.
Ihr Magen weist zurück, was sie schluckt. Ein beißender Geschmack steigt in ihrer Kehle empor, eine weitere Kontraktion, und die brennende Flüssigkeit rinnt ihr in die Nase.
Sie spuckt nicht.
Sie wartet.
Ihr Körper beruhigt sich.
Sie nimmt erneut etwas Asche, bis der Magen nachgibt und bei sich behält, was sie ihm gibt.
D er Pfarrer liest die Messe in einer leeren Kirche. Mit erhobenen Händen und weiten Ärmeln steht er da, das Kreuz schlägt gegen seine Brust. Die Abwesenheit der Gläubigen verhindert nicht die Liebe zu Gott.
Er sieht Marie hereinkommen.
Sie bleibt vor dem Judas-Gemälde stehen. Bei ihr zu Hause gibt es keine Bücher, nur die Bibel. Judas
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