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Die Liebe ist eine Insel

Die Liebe ist eine Insel

Titel: Die Liebe ist eine Insel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudie Gallay
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ist ein Name der Schande, seit zweitausend Jahren klagen die Menschen ihn an.
    Sie denkt häufig an ihn.
    Der Pfarrer hat die Messe beendet. Er geht zu ihr.
    Sie deutet mit dem Finger auf die Wand.
    »Er ist mein Bruder im Meineid«, sagt sie.
    Sie sieht den Pfarrer an.
    »Jesus sagt, ›Zerstört diesen Tempel, und ich baue ihn in drei Tagen wieder auf.‹ Der Tempel, von dem er sprach, war der von Jerusalem, er war aus Stein und Zement, nicht wahr?«
    Sie schweigt einen Augenblick. Der Pfarrer antwortet nicht.
    Sie glaubt, Judas sei überzeugt gewesen, dass der Tod Jesus niemals töten könne. Er sei überzeugt gewesen, dass er sich wieder an den Tisch setzen werde, aber er ist nicht zurückgekommen.
    Sie spricht von Verrat und Vergebung. Vom Vergessen. Beim Kuss hat Judas nicht gezittert, er hat keinen Verrat begangen, er hat Jesus die Gelegenheit geboten zu zeigen, wozu er fähig war, eine Auferstehung innerhalb von drei Tagen. Als er begriffen hat, dass er sich geirrt hatte, hat er sich erhängt.
    »Glauben Sie, dass er sich getötet hat, weil Jesus ihn enttäuscht hat?«
    »Das glaube ich nicht«, erwidert der Priester.
    Marie denkt nach.
    Sie hätte Paul mehr lieben müssen. Er ist gestorben, damit sie zeigen konnte, wozu sie fähig war. Sie tut nichts.
    »Ich muss Sie um einen Gefallen bitten«, sagt der Priester.
    Er sagt es sehr leise.
    »Nennen Sie mich Noël. Bitte, es gibt keinen außer Ihnen, den ich darum bitten kann.«
    Sie blickt ihn erstaunt an.
    »Père Noël …«
    Marie sagt es, ohne mit der Wimper zu zucken.

D ie Tür des Kahns ist mit einem alten Vorhängeschloss versperrt. Marie schiebt die Hand zwischen die Töpfe und findet den Schlüssel.
    Der erste Raum ist quadratisch, mit einem Tisch und Sitzbänken. Über der Lehne hängt eine Jacke. Auf dem Tisch Obst, eine Flasche Sirup, Brot und Gewürze.
    Stapel von Zeitschriften, ein Hut, eine Pfeife, ein Aschenbecher.
    Das Fenster über der Spüle steht offen. Runde Bullaugen öffnen den Blick auf Höhe des Flusses.
    Jeff sagt, die Fische hätten ein Gedächtnis von zehn Sekunden, danach würden sie vergessen.
    Eine Vergangenheit von nur zehn Sekunden. Zehn Sekunden Erinnerungen.
    Sie kickt ihre Schuhe von den Füßen, Spitze, Absatz, und lässt sich in einen Sessel fallen. Sie rollt sich zusammen. Es ist bequem. Sie spürt das Schwanken des Flusses. Ihr Bruder sagte, er müsse schreiben, das sei eine innere Notwendigkeit. Ohne das Schreiben würde sein Körper verfaulen. Die Gendarmen fanden ihn auf dem Boden liegend, ein Körper unter einer Decke, ohne Gesicht.
    Die Menschen erinnern sich.
    Die Fische vergessen.
    Jeff sagt, ein Fisch, der frisst, glaubt, dass er schon immer frisst. Wenn er stirbt, ist es ebenso.
    Sie steht auf.
    Lässt Wasser in ihre Hände fließen.
    In der Obstschale liegen Bananen. Sie nimmt eine und kratzt die Innenseite der Schale mit den Zähnen ab.
    »Waren wir verabredet?«
    Sie dreht sich um und wischt sich mit der Hand über den Mund.
    Odon steht auf der Schwelle, die Hände in den Taschen. Ein Hemd mit offenem Kragen, kurzärmelig.
    »Zieh deine Schuhe an, wir machen einen Spaziergang.«
    »Ich will keinen Spaziergang machen.«
    Er füllt ein Glas mit Wasser.
    »Wie du willst. Dann plaudern wir ein wenig …«
    Die Banane liegt auf dem Tisch, unangebissen. Die Haut daneben, abgeschabt.
    »Was machst du hier?«
    »Ich bin vorbeigekommen und habe Licht gesehen.«
    »Und du hast den Schlüssel über der Tür gefunden? Du willst mich wohl für dumm verkaufen?«
    Er holt sein Päckchen heraus und zündet sich eine Zigarette an. Er bemerkt neue Kratzer auf ihren Armen.
    Sie setzt sich wieder in den Sessel.
    Ihr Bruder sagte, das Leben setzt dich auf Schienen, du siehst die Mauer vor dir, aber du kannst nichts machen, weder bremsen noch abspringen und auch nicht schneller fahren. Also wartest du.
    Sie senkt die Stirn.
    Ihr Bruder war ein Dichter. Sie weiß nichts. Sie kratzt sich die Haut auf, und wenn es blutet, hört sie auf. Sie müsste den Mut haben, bis zu den Adern vorzudringen.
    Er hat sich den Kopf weggeschossen.
    Odon bleibt an der Wand stehen. Er beobachtet Marie, trinkt sein Wasser und raucht.
    Als Kind nahmen seine Eltern ihn in den Zoo mit. Er hasste es. Marie wirkt wie ein hinter Gitterstäben gefangenes Tier.
    Sie steckt die Hand in ihren Rucksack. Holt den Revolver heraus und legt ihn auf den Tisch.
    Sie tut es ohne jede Heftigkeit. Fast gleichgültig.
    Odon weicht zurück.
    »Was tust du damit?«
    Die Luft

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