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Die Liebe ist eine Insel

Die Liebe ist eine Insel

Titel: Die Liebe ist eine Insel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudie Gallay
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Sieht den Vorhang, den roten Stoff, die dicken Falten.
    Sie hört mit Tränen in den Augen das Gemurmel auf der anderen Seite, ein dumpfes Stimmengewirr durch den dicken Stoff.
    »Ich wollte nicht …«
    »Aber du hast es getan!«
    Er presst es heraus.
    Dann gibt er Jeff das Zeichen, den Vorhang zu öffnen. Jeff rührt sich nicht.
    Odon packt mit einer schnellen Bewegung das Futter, zieht, und der Vorhang öffnet sich. Nach und nach verstummt das Gemurmel im Saal, bis es still ist.
    Alle Blicke sind auf die Bühne gerichtet. Ein Mädchen, allein, am Boden kriechend, in einem so großen Raum.
    Marie stützt sich auf die Arme. Sie hebt den Kopf. Über ihr blinkt eine Lampe, ein Wackelkontakt, sie kneift die Augen zusammen.
    Im Saal Gesichter. Viele Gesichter.
    Sie stammelt ein paar Worte. Man glaubt, sie spielt. Sie fährt sich mit der Hand durchs Haar, sucht etwas, worauf sie ihren Blick richten kann. Zwischen den Kulissen bemerkt sie Julie und die Jungs.
    Sie versucht ein Lächeln.
    Fest drückt sie ihren Rucksack und ihren Fotoapparat an sich. Sie steht auf.
    Sie streicht mit dem Finger über ihre Ringe. Ein Ring für jedes Lebensjahr, in dem Paul nicht mehr da war.
    Sie fährt mit der Zunge über den ersten, den an der Lippe. Die Lippe ist weich und feucht. Der Ring kalt.
    In die Innenseite des Rings sind Buchstaben eingraviert. Sie nimmt ihn zwischen die Finger, findet die Buchstaben wieder, die Zeichnung des Namens.
    Da sind ihr Arm, ihre Hand, die Finger und der Ring. Ein besonderer Geruch und in ihrer Spucke ein Geschmack von kaltem Stahl.
    Die Finger klammern sich an den Ring.
    Es ist vollkommen still im Saal, als sie zieht. Einmal reicht. Die Lippe zerreißt. Kein Schrei. Blut läuft über ihr Kinn, warm, klebrig. Es tropft auf den Boden. Weitere Tropfen beflecken das Smaragdgrün ihres Polohemds.
    Sie öffnet langsam die Finger. Der Ring fällt zu Boden, schlägt auf, rollt.
    Bleibt liegen.
    Der erste Ring ist entfernt.
    Sie weiß nicht, ob man seine Sünden durch den Schmerz sühnt.
    Sie denkt an Gregs Kuss auf diesen Mund, der jetzt entstellt ist. Der Drang zu lachen steigt in ihre Kehle, bahnt sich einen Weg, öffnet ihre Lippen einen Spalt, wie eine Pflugschar. Sie lacht mit ihren sabbernden Lippen, die Arme schließen sich über ihrem Rucksack.
    Im Saal herrscht verlegene Stille. Es handelt sich bestimmt um Filmblut. Einstudierten Wahnsinn. Zaghafter Applaus.
    Marie weicht mit dem Lächeln einer Geschundenen zurück. Jeff schließt in aller Eile den Vorhang.
    Julie und die Jungs treten zur Seite, um sie vorbeizulassen. Sie folgen ihr mit den Augen.
    Odon geht.
    Julie blickt sich verwirrt um. In fünf Minuten beginnt die Vorstellung.
    Sie gibt Jeff ein Zeichen. Sie nimmt ihre Position ein, blass, angespannt.
    Auf dem Bühnenboden dunkle Tropfen.

M arie geht in den Flur. Ihr Mund schmerzt. Ihr Knöchel ebenfalls. Sie humpelt, als sie an den Garderoben vorbeigeht.
    Die Tür von Odons Büro steht offen.
    Sie geht weiter, eine Hand an der Wand, öffnet die Tür, die auf den Platz führt. Der Regen hat aufgehört, es war nur ein Schauer, die Leute kommen schon wieder heraus. Das Wasser läuft die Rinnsteine entlang, es hat die Luft kaum abgekühlt, trägt nun den Staub mit sich fort.
    Es ist nur ein Aufschub. Über den Dächern grollt der Donner.
    Marie bleibt auf der Schwelle stehen. Es herrscht reges Treiben, überall, auf dem Platz, auf der Terrasse, ein Kastagnettentänzer nutzt die Atempause, Schaulustige umringen ihn.
    Marie muss diese Menschenmenge durchqueren und dann noch durch die Straßen gehen, um in ihr Zimmer zu gelangen.
    Sie schafft es nicht. Als wäre ihr das Gehen unmöglich geworden. Mit herabhängenden Armen steht sie da. Passanten drehen sich um, sehen sie entsetzt an.
    Es würde schon reichen, wenn sie sie nicht anblicken würden. Der Mut schöpft seine Kraft manchmal aus der Gleichgültigkeit. Ein Kind nähert sich, es hält ein riesiges Eis in der Hand. Gerade mal fünf. Es ist allein. Zwei rosafarbene Kugeln auf der Waffel. Es starrt Marie an, die Hand leicht geneigt.
    Und es beginnt zu weinen. Große schwere Tränen. Geräuschlose Tränen.
    Eine Frau kommt angelaufen, als sie Maries Gesicht sieht, nimmt sie die Hand des Kindes.
    Das Eis fällt zu Boden.
    Marie weicht zurück.
    Sie dreht um, geht wieder in den Flur.
    Auf dem Pflaster zwei geschmolzene rosafarbene Kugeln.

N uit rouge geht zu Ende, eine letzte traurige Vorstellung, beherrscht von Maries gespenstischem Schatten.
    Jeff

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