Die Liebe ist eine Insel
majestätischen Körper empor.
Ihre Kehle schwillt von den Worten, denen sie Leben einhaucht.
Die zurückgegebene, interpretierte, lebendige Emotion.
Marie sieht ihren Bruder im Lieferwagen, seine Hand auf dem Stift, spätnachts. Sie presst die Hände zusammen.
Er schrieb.
Die Jogar formt, füllt. Wird der Herzschlag.
Marie unterdrückt ihre Tränen nicht, wischt nicht weg, was rinnt. Sie weiß nicht einmal, dass sie weint.
Sehr bald schon ist das, was sie hört, etwas anderes, und es ist lebendiger als Anamorphose .
Es gehört nicht mehr Paul. Sie hat geglaubt, er sei es. Sie hat es sich gewünscht. Nun erkennt sie es nicht mehr. Es ist ihr vertraut, und doch ist es anders.
Es ist eine Geschichte ohne Paul.
Oder mit Paul, weit weg. Dahinter. Ein Schatten seiner selbst, der verblasst.
Sie kratzt ihren Arm mit den Fingernägeln, löst die schwarzen Krusten. Früher tat sie sich weh, damit der Schmerz sie einander näherbrachte.
Sie kratzt fester.
Sie spürt, dass das Band zwischen ihnen sich löst.
M arie nimmt die Kleidungsstücke aus der Tüte. Sie bilden einen Haufen auf der Matratze.
Es ist Nacht.
Das Fenster steht offen. Das Licht brennt. Die Insekten fliegen, davon angelockt, herein, kreisen und nähern sich. Manche verbrennen sich die Flügel, fallen zu Boden.
Marie steckt den Kopf in die Tüte. Drückt zu, langsam. Durch sie hindurch sieht sie das Zimmer, die Wände, die Botschaften auf dem Fenster.
Schweiß bildet sich im Innern der Tüte.
Das Zimmer ist weiß, die Zettel verschwimmen.
Das Plastik klebt an ihrem Mund.
Das noch grelle gelbe Licht der Glühbirne.
Paul hat Anamorphose und Nuit rouge geschrieben, er hätte weitere Texte geschrieben, wenn man ihn am Leben gelassen hätte. Gute Texte. Wie Beckett. Man hätte gesagt, Selliès gehört zu den ganz Großen!
Die Luft wird dünn in der Tüte.
Sie denkt an den Zufall, die kritischen Minuten, die manchmal über das Schicksal entscheiden. Die Jogar sagt, man brauche Kraft, um zu lieben.
Isabelle sagt, halte dich bitte gerade …
Marie lächelt in der Tüte.
Sie richtet sich auf.
Die Luft in der Tüte ist aufgebraucht. Das Plastik klebt an ihrer Haut.
Sie reißt sich die Tüte vom Kopf. Atmet tief ein, mit offenem Mund, schluckt in panischem Schrecken.
Es summt in ihrem Kopf.
Sie blickt sich um, klammert sich an die Tüte. Sie weiß nicht, wie spät es ist. Sie sieht nur die Nacht.
F ür die Jogar ist es die letzte Vorstellung. Noch ein paar Worte, und das Festival ist vorbei für sie. Zwei freie Tage. Sonntag isst sie mit ihrem Vater zu Mittag, und dann fährt sie ab.
Sie geht zum Bühnenrand. Der Beifall kann nicht alles sein.
Phil Nans küsst ihre Fingerspitzen, tritt beiseite.
Zunächst das, sie allein auf der Bühne. Das Geschenk der Stille. Für ein paar Minuten scheint die Zeit angehalten.
Das Publikum blickt sie unverwandt an. Sie prägt sich ein, gräbt sich tief ins Gedächtnis. Sie wird abreisen, diese Frau, die sie lieben, die ein Teil von ihnen ist, ihrer Träume. Ihrer Stadt.
Jemand steht auf, ein anderer folgt. Es ist still wie in einer Kathedrale. Bald hat sich der ganze Saal in einer stummen Ovation erhoben.
Die Jogar zittert.
Zum ersten Mal erlebt sie das.
Sie schweigt. Vermag nicht einmal zu lächeln.
Sie sieht sie alle an, die Gesichter, ihr Herz zerspringt fast.
Auch sie sehen sie an.
Ihr Blick wandert von Gesicht zu Gesicht. Niemand rührt sich, niemand spricht. Man muss sich das vorstellen. Eine fast unerträgliche Spannung.
Plötzlich ruft jemand: »Bravo!«, und der Applaus bricht los.
Phil Nans kommt zurück, nimmt ihre Hand. »Du warst außergewöhnlich!«
Der Beifall überflutet sie. Sie hebt die Blumen auf.
Eine Hand auf dem Herzen: »Ich liebe euch …« Sie wirkt verstört. Die Geschwindigkeit, mit der das Lachen sich in Tränen verwandelt, ist beinahe peinlich.
»Ich liebe euch, ich liebe euch so sehr …«
Sie bleibt, solange sie kann.
Solange sie es aushält.
A m Abend gibt es einen Empfang in den Räumen des La Mirande. Nur geladene Gäste. In den Gärten sind runde Tische aufgestellt worden, auf einer Bühne spielen Musiker. Kellner gehen mit Tabletts umher, auf denen Champagnergläser stehen. Es herrscht ein reges Treiben, man promeniert von den Aufenthaltsräumen an die Bar, in den Garten, die Szenerie von Musik untermalt. Alle sind fröhlich, Paare finden sich.
Nathalie ist im Patio, mit Freunden. Odon sieht sie aus der Ferne. Sie hat einen leichten Sonnenbrand, ihre
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